Betrachtet man die Liste der Werke von Ursula Poznanski, fällt die dystopische „Die Verratenen“-Trilogie als ungewöhnlich auf. Normalerweise tummelt sich die österreichische Autorin nämlich nicht in der Science-Fiction. Überwiegend schreibt Poznanski Thriller und allgemein Spannungsliteratur für Erwachsene und Jugendliche. Ihren Ausflug in ein anderes Genre begründete sie gegenüber der FAZ damit, dass sie, um die Geschichte erzählen zu können, die ihr vorschwebte, ein spezielles Gesellschaftskonstrukt benötigte, das extreme Gegensätze zuließ. Dies bedeutete entweder Fantasy oder Dystopie. Sie entschied sich für die Dystopie. Meiner Ansicht nach war ihre Wahl goldrichtig, da der Realitätsbezug ihres Dreiteilers in einer düsteren Zukunftsvision definitiv glaubwürdiger ist.
Niemals hätte Ria geglaubt, dass Tageslicht das kostbarste Gut in ihrem Leben werden würde. Seit sie und ihre Freunde in Quirins unterirdisches Labyrinth flohen, sehnt sie jede Sekunde unter der Sonne herbei. Doch diese wertvollen Momente sind selten. Nur wenige der Schwarzdornen wissen, dass ihre Abreise inszeniert war – zum Schutz des Clans und zu ihrem eigenen Schutz, denn die Sphären suchen noch immer nach ihnen. Die Frage, warum ihre eigenen Leute sie umbringen wollen, quält Ria in den langen, dunklen Stunden unter der Erde. Trotz dessen hält sie Aureljos Plan, sich heimlich in eine Sphäre zu schmuggeln, für zu gefährlich. Quirin hingegen unterstützt ihn tatkräftig bei seinen Vorbereitungen. Fast, als wollte er sie loswerden… Während Aureljo beschäftigt ist, sortiert Ria die Bücher der Bibliothek. Inmitten von dicken Wälzern voller längst vergessenem Wissen entdeckt sie handgeschriebene Briefe. Aufgeregt beginnt sie, zu lesen und begreift schnell, dass sie die Antwort auf all ihre Fragen in den Händen hält. Sie kann nicht länger bei den Schwarzdornen bleiben. Sie muss Aureljo in die Sphären begleiten. Denn jetzt geht es nicht mehr nur um ihr Leben.
Im selben Interview, in dem Ursula Poznanski erklärt, warum sie die „Die Verratenen“-Trilogie als Dystopie konzipierte, scherzt sie, dass sie Hemmungen hat, die drei Bücher als politisch zu betiteln, um ihre jugendlichen Leser_innen nicht zu vergraulen. Bei mir muss sie sich da keine Sorgen machen. Im Gegenteil, ich freue mich sehr darüber, dass der zweite Band „Die Verschworenen“ die politische Ebene der Geschichte subtil aber deutlich fokussiert. Genau diese Verbesserung hatte ich mir nach der Lektüre des ersten Bandes „Die Verratenen“ gewünscht und siehe da, Poznanski hat mich erhört. Dank spannender Einblicke in das gesellschaftliche Gefüge innerhalb der Sphären und in das Verhältnis zwischen Sphären- und Außenbewohnern lernte ich die Strukturen der potentiellen zukünftigen Welt besser kennen und erfuhr darüber hinaus beiläufig die realistische Ursache für die Eiszeit, die einen Teil der Menschen veranlasste, Zuflucht in den gigantischen Plastikkuppeln zu suchen. Ursula Poznanski hätte all dieses Wissen bereits im Auftakt der Trilogie verraten können – ich bin froh, dass sie es nicht getan hat. „Die Verschworenen“ ist erneut eng an die Protagonistin und Ich-Erzählerin Ria geknüpft. Ihr Erlebnis- und Erkenntnishorizont bestimmt das Fortschreiten der Geschichte. Es ist vollkommen plausibel, dass sie Zeit brauchte, um zu begreifen, dass ihre Wahrnehmung der Welt durch ihre Erziehung in den Sphären einseitig, voreingenommen und teilweise schlicht falsch ist. Rias Blickwinkel musste sich erst verschieben, um sie sehen zu lassen: Unrecht und Ungleichgewicht in zahllosen Facetten, nicht nur bezüglich der Behandlung der Außenbewohner durch die Sphären, sondern auch hinsichtlich der Organisation des Lebens in den Sphären selbst. Mir war nicht bewusst, wie privilegiert Ria und ihre Freunde als Elitestudenten waren – es fiel uns gemeinsam wie Schuppen von den Augen, als sie erfährt, wie sich der Alltag normaler Arbeiter_innen gestaltet, wie vielen Einschränkungen und Vorschriften diese unterworfen sind. Diskret hinterfragt Poznanski, ob die gefährliche Freiheit der Außenwelt der klaustrophobischen, erdrückenden Sicherheit der Sphären vielleicht vorzuziehen ist. Dank Rias beeindruckender Auffassungsgabe sind die Klassenunterschiede allgegenwärtig. Ihre Gedankengänge zu beobachten war faszinierend. Aufgrund ihrer Ausbildung zeichnet sie sich durch ein außergewöhnliches Maß an Struktur, Rationalität und Kontrolle aus, wirkt jedoch niemals kalt oder unglaubwürdig, weil sie ihre Gefühle überzeugend durchlebt. Sie verfügt lediglich über Strategien, die es ihr ermöglichen, sich zu beherrschen. Dadurch nervt sie sehr viel weniger als manch andere YA-Heldin. Sie ist keine Heulsuse und darin geschult, sich selbst zu helfen und Probleme eigenständig zu lösen. Hysterie ist ihr fremd, weshalb sogar ihr unvermeidliches Liebesdreieck erträglich war, was allerdings auch daran liegt, dass es die Handlung niemals überlagert. Poznanski erhält den Fokus aufrecht.
Ich fand „Die Verschworenen“ zweifelsfrei besser als den Trilogieauftakt. Beinahe hätte es für eine 4-Sterne-Bewertung gereicht, bräuchte die Handlung nicht etwas lang, um in Gang zu kommen. Die Zeit, die Ria unterirdisch verbringt, erschien mir langatmig; es dauert eine Weile, bis sich die Situation der Protagonistin entscheidend ändert. Trotz dessen erkenne ich nun doch Ursula Poznanskis Talent. Sie schreibt sehr elegant und ökonomisch, verzettelt sich nicht und verzichtet auf unnötige inhaltliche Schlenker. Ihre Dystopie ist ebenso vorstellbar wie innovativ und ich habe das Gefühl, dass trotz der unerwarteten, schockierenden Wendung des zweiten Bandes noch längst nicht alle schmutzigen Geheimnisse aufgedeckt wurden. Ich freue mich auf das Finale „Die Vernichteten“ und drücke Ria die Daumen, dass sie eine Brücke zwischen Sphären und Außenwelt schlagen kann. Für mich wäre die Wahl übrigens eindeutig: lieber frei als sicher.