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review 2017-07-20 10:55
Nur ein Wort: Grimdark
King of Thorns - Mark Lawrence

Habt ihr schon mal den Begriff Grimdark gehört und euch gefragt, was das nun wieder ist? Grimdark ist ein Subgenre der Fantasy: die Charaktere sind zwielichtiger, ihre Entscheidungen fragwürdiger, ihre Handlungen gewalttätiger. Alles ist etwas extremer, härter, blutiger, kompromissloser. So würde ich Grimdark erklären, denn bisher scheint es keine einheitliche Definition zu geben. Mein persönlicher Favorit ist die Beschreibung des Autors Adam Roberts, der Grimdark ganz simpel als „Anti-Tolkien“ bezeichnet – obwohl ich nicht glaube, dass dieses Subgenre zwangläufig eine Definition braucht. Ich halte es für eine intuitive Kategorie, die lediglich eine bestimmte Atmosphäre vermitteln und eine gewisse emotionale Resonanz erzeugen sollte.
„King of Thorns“, der zweite Band der Trilogie „The Broken Empire“ von Mark Lawrence, qualifiziert sich nach meinen Maßstäben spielend als Grimdark.

 

Als Jorg Ancrath schwor, er würde im Alter von 14 Jahren König sein, wurde er verspottet und belächelt. Er bewies, dass er niemals leere Reden schwingt, strafte seinen Onkel für den Verrat an seiner Mutter und seinem Bruder und entriss ihm sein Königreich. Heute ist Jorg 18 Jahre alt, herrscht seit vier Jahren über das Gebirgsland Renar und befindet sich in einer deprimierend aussichtslosen Lage. Vor den Toren seiner Burg versammelt sich eine gewaltige Streitmacht, die Jorgs Truppen zahlenmäßig weit überlegen ist. Der Prinz der Pfeile ist entschlossen, Renar zu erobern, denn er will zum Imperator ernannt werden, um den Krieg der Hundert ein für alle Mal zu beenden. Jorgs Chancen, ihm zu trotzen, sind gering. Jedenfalls in einem fairen Kampf. Vor vier Jahren entdeckte der junge König während einer Reise Artefakte der Erbauer von unsäglicher Macht. Niemand hat behauptet, Jorg würde fair kämpfen, richtig?

 

Ich hatte vor der Lektüre keinen blassen Schimmer, was mich im zweiten Band der „The Broken Empire“ – Trilogie, „King of Thorns“, erwarten würden. Es ist unheimlich schwierig, vorauszusagen, wie Mark Lawrence seinen Protagonisten Jorg handeln lassen wird, weil Unberechenbarkeit ein dominanter Zug seiner Persönlichkeit ist. Ich schlug das Buch auf und wäre beinahe rückwärts vom Stuhl gekippt – über dem ersten Kapitel steht in dicken Lettern „Wedding Day“. Hochzeitstag? Wer heiratet? Jorg etwa? Nicht möglich! Oder doch? Seit „Prince of Thorns“ vergingen vier Jahre, vielleicht hat er sich ja tatsächlich weiterentwickelt, ist gereift und ruht nun in sich selbst? Klingt das in euren Ohren genauso lächerlich wie in meinen, verstehen wir uns. Nein, darüber hätte ich mir wirklich keine Gedanken machen müssen, Jorg ist noch immer derselbe, beängstigende, bis in den Kern verrottete, von Hass, Rache und giftigem Ehrgeiz getriebene junge Mann, der er schon mit 14 war. Selbstverständlich verrät Mark Lawrence seinen Leser_innen, was er in den letzten Jahren getrieben hat. Erneut unterteilt er die Handlung aus Jorgs Ich-Perspektive heraus in Vergangenheit und Gegenwart und veranschaulicht auf diese Weise geschickt, dass sich die aktuelle Situation bereits vor vier Jahren abzeichnete. Vor vier Jahren begegnete Jorg dem Prinzen der Pfeile das erste Mal. Seit dieser schicksalhaften Begegnung wusste er, dass der Konflikt zwischen ihnen eines Tages unvermeidlich eskalieren würde. Nun, Jorg wäre nicht Jorg, hätte er nicht sofort Gegenmaßnahmen ergriffen. Er bereitete sich auf eben diesen Angriff der Gegenwart vor, zeigt in der Hitze der unausweichlichen, mitreißenden Schlacht eine überraschend kühle, militärisch-strategische Gewandtheit und spuckt der Ausweglosigkeit der Umstände frech ins Gesicht. Er würde lieber brennen, als sich einem Rivalen zu unterwerfen. Aus seiner Sicht begehrt der Prinz der Pfeile, was rechtmäßig ihm zusteht: den Thron des Imperators. Er will diesen Titel, also hat er ein Anrecht darauf, basta. Diese Einstellung illustriert Jorgs verdorbenen Charakter haargenau und unmissverständlich. Wer noch Hoffnung für ihn hegte, wird schonungslos desillusioniert. Sein schwarzes Herz verfolgt ihn auch auf seiner Reise, immer wieder wird er mit seinen Sünden konfrontiert, weil die wahren Puppenspieler des Krieges der Hundert glauben, ihn so kontrollieren zu können. Ich fand es beeindruckend, wie ausgeklügelt Mark Lawrence permanent eine unterschwellige Spannung aufrechterhält, indem er die verborgenen Akteure seines brutalen Universums langsam und widerwillig identifiziert. Dadurch bleibt stets ein Gefühl der Neugier bestehen. Manchmal war diese Neugier das einzige, das mich zum Weiterlesen bewog, denn ich kann nicht leugnen, dass „King of Thorns“ hin und wieder reichlich zäh ist. Die Lektüre war anstrengend, weil Mark Lawrence viele bedeutsame Details lediglich andeutet. Dadurch erfordert das Buch ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Eine Sekunde nicht aufgepasst und schwupps – schon ging ein wichtiges Informationskrümelchen verloren.

 

„King of Thorns“ ist eine würdige Fortsetzung der Trilogie „The Broken Empire“ und steht dem Auftakt „Prince of Thorns“ in nichts nach. Noch immer bin ich vollkommen fasziniert vom Protagonisten Jorg, sodass es mir teilweise sogar schwerfällt, mich auf die Handlung zu konzentrieren, obwohl diese äußerst feinsinnig und intelligent konstruiert ist. All die Fäden, die Mark Lawrence mit gewissenhafter Autorität spinnt, verknüpfen sich erst ganz am Ende des Buches, ergeben dann aber ein überzeugendes Gewebe. Für mich wiegt es nicht allzu schwer, dass Lawrence zur Geheimniskrämerei neigt, weil er dadurch das eine oder andere Ass im Ärmel behält, das wunderbares Material für überraschende Wendungen bietet. Die Unberechenbarkeit von Autor, Handlung und Protagonist, die schiere Ahnungslosigkeit, die ich beim Lesen empfand, vermischen sich mit der unbequemen, düsteren, gewaltgeschwängerten Atmosphäre zu einer besonderen Lektüre, für die es vermutlich tatsächlich nur eine passende Beschreibung gibt: Grimdark.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/07/20/mark-lawrence-king-of-thorns
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review 2017-04-28 09:42
Subtile Gesellschaftskritik statt leichtem Mystery-Thriller
Smoke: Roman - Katrin Segerer,Dan Vyleta

Dan Vyleta ist ein Kind des Potts. Ja, ihr habt richtig gelesen! Sein Weg führte ihn zwar über England in die USA und bis nach Kanada, aber er wurde 1974 als Sohn tschechischer Einwanderer im Ruhrgebiet geboren. Ich frage mich, wie viel Pott noch in ihm steckt. Seinen aktuellen Roman „Smoke“ verfasste er jedenfalls nicht in Deutsch, sondern in Englisch. Unseren Markt erreichte das Buch durch die Random House Gruppe, die es mir als Rezensionsexemplar anbot. Ich nahm das Angebot an, da der Klappentext wirklich interessant klang. Meine Neugier war geweckt.

 

Thomas und Charlie sind privilegiert. Als Schüler eines elitären Internats werden sie auf ihr späteres Leben an der Spitze der Gesellschaft vorbereitet. Sie sind normale Jungen – doch ihre Gedanken sind unrein. Jeder weiß es, denn der Rauch zerrt all ihre Verfehlungen ans Tageslicht. Der Rauch brandmarkt die Menschen als Sünder, er dringt aus Poren und Körperöffnungen und hinterlässt schmierigen Ruß, der an der Haut klebt, Kleidung befleckt und Gebäude in einen schwarzen Schleier hüllt. Jede Lüge, jede Gehässigkeit, jede Missetat wird unweigerlich offengelegt. Der Rauch ist der sichtbare Graben zwischen Oberschicht und Pöbel. Niemals wäre es Thomas und Charlie eingefallen, seine Gesetze zu hinterfragen, bis ein verstörender Schulausflug nach London die Freunde ratlos zurücklässt. Wieso würde jemand den Ruß von Mördern sammeln? Wie ist es möglich, dass ein Mensch kein einziges Fädchen Rauch absondert? Aufgewühlt begeben sich Thomas und Charlie auf die Suche nach den Ursprüngen des Rauchs und stoßen auf eine Verschwörung nationalen Ausmaßes, die sie vor eine haarsträubende Entscheidung stellt: ist ihre Welt es wert, gerettet zu werden?

 

Uff. Nach der Lektüre von „Smoke“ musste ich mich erst einmal zurücklehnen, tief durchatmen und darüber nachdenken, was ich da eigentlich gerade gelesen hatte. Dieser Roman ist weit bedeutungsvoller und philosophischer, als ich erwartet hatte. Es ist definitiv kein leichter Mystery-Thriller, sondern eine erstaunliche komplexe Gesellschaftskritik. Dan Vyleta entführt seine Leser_innen in das 19. Jahrhundert, zeigt England auf dem Höhepunkt der industriellen Revolution und konfrontiert sie mit einer alternativen Realität, die sich vor allem in einem offensichtlichen Punkt von der unseren unterscheidet: die Menschen rauchen. Starke Gefühle wie Zorn, Neid, Lust, aber auch Freude und Glück lösen eine biochemische Reaktion im Körper aus, deren Resultat der Rauch ist, der aus allen Körperöffnungen dringt. Folglich ist der Rauch die visuelle Manifestation des menschlichen Wesens. Er ist weder gut noch böse, er ist einfach nur. Nichtsdestotrotz wird er in Vyletas Version des Vereinigten Königreichs als göttliches Zeichen und sichtbarer Beweis für das Böse in einem Menschen aufgefasst. Der Rauch wird instrumentalisiert; er dient als Legitimation, die Bevölkerung zu kontrollieren und die Klassenunterschiede stetig zu verschärfen. Die beiden jugendlichen Protagonisten Thomas und Charlie werden bereits im Internat indoktriniert. Als Elite des Landes müsse die Oberschicht mit gutem, sauberen Beispiel vorangehen, um das gemeine Volk führen zu können. Wer aus dem Adel stammt, sollte idealerweise niemals rauchen. Selbstkontrolle als Religion. Natürlich können weder Thomas noch Charlie dieses Ideal erfüllen, obwohl Charlie ihm deutlich näherkommt als sein Freund. Thomas ist ein reizbarer, leidenschaftlicher junger Mann, dessen Gefühle schnell überkochen. Dementsprechend raucht er stark und viel, während Charlies gutmütige, ehrliche und offene Persönlichkeit eher selten kleine Rauchfähnchen produziert. Sie verkörpern vollkommen verschiedene Formen von Rauchern. Betrachtet man die beiden als die Endpunkte einer Skala, kann man getrost behaupten, dass ihnen auf ihrer Suche nach Antworten die Myriaden Zwischenstufen dieser Skala begegnen. Sie lernen unterschiedliche Lebensweisen mit und Herangehensweisen an den Rauch kennen, was ich als sehr spannend empfand. Ich denke, Dan Vyleta konstruierte für „Smoke“ absichtlich eine sich selbst treibende Handlung, die seitens der Figuren wenig Initiative bedurfte. Thomas und Charlie lenken die Geschichte nicht, sie werden von ihr gelenkt, wodurch sich zahlreiche Situationen ergeben, die ihren Horizont erweitern. Sie erleben Unrecht und Grausamkeit, Güte und Großzügigkeit und entwickeln anhand dieser Erlebnisse eine eigene Weltanschauung. Meiner Ansicht nach ist „Smoke“ daher eine ungewöhnliche, aber überzeugende Coming-of-Age-Geschichte, die den Konflikt zwischen Individuum und System erfrischend originell und tiefgründig interpretiert.

 

„Smoke“ ist eines dieser Bücher, die weniger gefallen als faszinieren. Dan Vyleta versucht meines Erachtens nach nicht, sich bei seinen Leser_innen anzubiedern, sondern präsentiert eine subtile, feinsinnige Gesellschaftskritik, die zum Nachdenken anregt. Dafür nimmt er eine gewisse Trägheit der Geschichte in Kauf, weil diese intellektuell statt emotional mitreißen soll. Für mich hat dieses Konzept funktioniert, obwohl ich der Meinung bin, dass Vyleta haarscharf an der Grenze zur gesellschaftsphilosophischen Überladung vorbeischlitterte. Beinahe hätte er zu viel von mir verlangt. Glücklicherweise zügelte er sich, sodass ich den immensen gedanklichen Spielraum und das stimulierende Potential des Buches sehr zu schätzen wusste.
Meiner Meinung nach ist „Smoke“ äußerst lesenswert, es setzt allerdings ein hohes Maß an eigenständiger, geistiger Beweglichkeit voraus. Es ist keine locker-flockige Lektüre für Zwischendurch. Stellt euch zum Warmwerden vor dem Lesen eine Frage: was bedeutete es für die Gesellschaft, wäre jede starke Emotion jedes Menschen nicht länger verborgen, sondern sichtbar?

 

Vielen Dank an Random House und carl’s books für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars im Austausch für eine ehrliche Rezension!

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/04/28/dan-vyleta-smoke
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