logo
Wrong email address or username
Wrong email address or username
Incorrect verification code
back to top
Search tags: verlobung
Load new posts () and activity
Like Reblog Comment
review 2016-06-07 09:46
Von Leid, Verwundung und Vergebung
Carthage LP - Joyce Carol Oates

Corporal Brett Kincaid kehrte verwundet aus dem Krieg zurück, äußerlich wie innerlich traumatisiert. In seiner Heimatstat Carthage wird von ihm erwartet, dass er das Leben wiederaufnimmt, das er für den Kampf gegen den Terrorismus hinter sich ließ. Doch Brett kann nicht. Er löst die Verlobung mit Juliet Mayfield und zieht sich zurück. Die Erinnerungen an den Irak quälen ihn, lassen ihn nicht schlafen und suchen ihn noch am Tage heim. Verzweifelt versucht er, zu vergessen, kombiniert Medikamente mit Alkohol. Als er am 10. Juli 2005 in seinem Auto am Straßenrand aufgegriffen wird, kann er nicht erklären, woher das Blut im Wagen stammt. Er erinnert sich vage, die Nacht in einer Kneipe verbracht zu haben. Er erinnert sich, dass Cressida Mayfield, Juliets jüngere Schwester, dort war. Danach verschwimmt alles in einem ungewissen Nebel. Offenbar war er der letzte, der Cressida lebend gesehen hat. Während die Stadt fieberhaft nach dem verschwundenen Mädchen sucht, sieht sich Brett mit Anschuldigungen konfrontiert. Könnte er tatsächlich etwas mit Cressidas Verschwinden zu tun haben? Hat er etwas Unverzeihliches getan? Verwirrt und unfähig, seinen Erinnerungen zu trauen, beginnt für Brett ein Kampf mit seinem Gedächtnis, der ihn Jahre seines Lebens kosten wird.

 

„Carthage“ von Joyce Carol Oates ist schwer verdauliche Kost. Meine Lieblingsautorin befasst sich niemals mit einfachen Themen, doch dieses Mal bewegte sie sich am äußersten Rand meiner Wohlfühlzone. Das Buch forderte mich ungemein, weil Oates darin meiner Meinung nach von ihrem üblichen Schreibstil abweicht. Ich kenne sie als mitfühlende Autorin, die jede Facette der Psyche ihrer Figuren nachvollziehbar und explizit ausarbeitet. In „Carthage“ hingegen bekam ich nichts geschenkt. Ich erhielt tiefe Einblicke in die Seelen der Akteure, in ihre Gedanken- und Gefühlswelten, doch es war mir selbst überlassen, diese zu analysieren und interpretieren. Ich musste mich anstrengen, um zu verstehen, was Brett, Cressida und ihre Familien antreibt und bewegt, obwohl sie realistische, hyperlebendige Figuren mit psychologisch dichten Profilen sind. Es war besonders schwierig, sich in Bretts chaotischen Gedanken zurechtzufinden. Ich habe mich in seiner Perspektive sehr unwohl gefühlt, weil mir seine Psyche wie ein klaustrophobisches Labyrinth erschien, verwundet und verwirrend. Trotzdem wusste ich die erzwungene Konfrontation mit ihm sehr zu schätzen, denn andernfalls hätte ich nicht begriffen, wie mächtig sich eine posttraumatische Belastungsstörung auswirkt und wie inadäquat US-amerikanische Veteran_innen behandelt werden. Sie werden im Alltag allein gelassen, weggeworfen wie menschlicher Abfall. PTBS scheint in den Staaten tabuisiert zu werden; es gibt kaum Bemühungen, Kriegsheld_innen nach ihrem Dienst wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Rein abstrakt wusste ich natürlich, dass die Thematik in den USA heiß diskutiert wird und es für Veteran_innen eine große Herausforderung ist, sich ein neues Leben aufzubauen, doch mit Oates harter, brutaler Darstellung der Realität habe ich nicht gerechnet. „Carthage“ ist absichtlich unbequem. Es trifft die US-Bevölkerung zielsicher an einer empfindlichen Stelle: ihrem Patriotismus. Schonungslos illustriert es, wie wenig Soldat_innen für ihre Bereitschaft, ihr Leben für ihre Heimat zu riskieren, zurückerhalten und was der Dienst an der Waffe mit ihnen anrichten kann. Selbstverständlich ist Bretts Schicksal ein extremer Fall, ich halte ihn grundsätzlich allerdings für nicht so ungewöhnlich.
Auffällig wird diese Geschichte durch Cressida, eine launische, eigenwillige junge Frau, mit der ich mich kaum identifizieren konnte. Sie ist keine Figur, für die man leicht Sympathie aufbaut, denn sie weist paradoxe, widersprüchliche Charakterzüge auf. Einerseits ist sie egoistisch, arrogant und herablassend, völlig von sich und ihrem Glauben an ihre intellektuellen Fähigkeiten eingenommen; andererseits ist sie zutiefst verunsichert und unfähig, sich als liebenswert einzuschätzen. Sie ist nicht in der Lage, mit Ablehnung oder Enttäuschung umzugehen und neigt zu hemmungslos überzogenen Reaktionen. Vermutlich leidet sie unter einer psychischen Erkrankung (vielleicht Borderline), was ihren massiven Zwang, sich auf psychischer, emotionaler Ebene wieder und wieder zu verletzen und zu bestrafen, erklären würde. Sie stößt alle Menschen von sich weg, verdammt sich zu einem Leben in Einsamkeit, weil sie glaubt, es nicht anders zu verdienen. Es war sicher nicht hilfreich, dass ihre Familie stets auf Zehenspitzen um sie herumschlich, ohne ihr jemals Grenzen aufzuzeigen. Wahrscheinlich hätte sie genau das gebraucht. Ich glaube, ich hatte während der Lektüre nur ein einziges Mal positive Gefühle für sie: im Epilog.

 

„Carthage“ ist ein anstrengendes, unangenehmes Buch. Es handelt von Leid und Verwundung, veranschaulicht aber auch das Motiv der Vergebung. Joyce Carol Oates kritisiert indirekt und regt zum Nachdenken an, ohne anzugreifen. Ihren Stil empfand ich als ungewohnt, weil er nichtlinear ist, doch ich bezweifle, dass ihre Geschichte die gleiche Wirkung entfaltet hätte, hätte sie sie säuberlich geordnet niedergeschrieben. Sie verfolgte eine Strategie, wollte Chaos und Verwirrung vermitteln, um ihren Leser_innen die Situation ihrer Figuren näher zu bringen. Für mich ging diese Taktik auf. „Carthage“ hat mich sehr berührt und stieß einige Gedankengänge an, mit denen ich mich sonst wohl nie beschäftigt hätte. Trotz dessen weiß ich, dass dieses Buch nicht bei allen Leser_innen Begeisterungsstürme auslösen wird. Es ist kontrovers und stilistisch fast schon experimentell, daher solltet ihr euch vor dem Kauf unbedingt eine Leseprobe zu Gemüte führen. Ihr müsst wissen, worauf ihr euch einlasst, damit ihr einschätzen könnt, ob es euch den mentalen Aufwand wert ist, herauszufinden, was Brett Kincaid und Cressida Mayfield miteinander verbindet.

Like Reblog Comment
review 2015-10-14 10:18
Ein interessanter Einstieg in die Thematik - vor allem für Jugendliche
If You Could Be Mine: A Novel - Sara Farizan

„If You Could Be Mine“ ist ein weiteres Buch, das ich auf der Young Adult – Bestenliste des Rolling Stone entdeckte. Die Autorin Sara Farizan ist die Tochter iranischer Einwanderer, wurde allerdings in den USA geboren. Außerdem ist sie lesbisch. Normalerweise ist mir die sexuelle Orientierung von Autor_innen egal, doch in diesem Fall spielt sie eine wichtige Rolle, weil „If You Could Be Mine“ wohl nicht entstanden wäre, wäre Sara Farizan heterosexuell. Ihre iranischen Wurzeln bedeuten ihr viel, sie gehören zu ihrer Identität, daher kam sie nicht umhin, sich während der Zeit ihres Comingouts zu fragen, wie ihr Leben aussähe, wäre sie im Iran aufgewachsen und nicht in den USA. Ihr fehlte Literatur, die genau diese Frage behandelte – also entschied sie als Erwachsene, das Buch zu schreiben, dass sie sich als Teenager wünschte.

 

Seit sie sechs Jahre alt war, liebt Sahar Nasrin. Damals begriff sie noch nicht, was diese Liebe bedeutet. Sie wusste nicht, dass es verboten ist, ein anderes Mädchen zu lieben. Heute weiß sie, dass ihre Gefühle ihr Leben bedrohen. Denn im Iran wird Homosexualität noch immer mit der Todesstrafe geahndet. Sahar ist bereit, ihre Liebe geheim zu halten, sich stetig zu verstecken, nur um mit Nasrin zusammen sein zu können. Doch Nasrin sieht mit Sahar keine Zukunft, obwohl sie ihre Gefühle erwidert. Als sie sich mit einem Mann verlobt, bricht für Sahar eine Welt zusammen. Soll sie nur zusehen, während die Frau, die sie liebt, einen anderen heiratet? Verzweifelt fasst Sahar einen gefährlichen Entschluss. Homosexualität mag im Iran ein Todesurteil sein, Transsexualität ist es jedoch nicht. Ließe sie sich zu einem Mann operieren, könnte Sahar Nasrin sogar heiraten. Wird sie ihre eigene Identität für die Liebe opfern?

 

Ich habe bisher keine Erfahrung mit Literatur aus dem LSBTTIQ-Bereich. „If You Could Be Mine“ ist mein erster Roman, der Homosexualität bzw. Transsexualität als Hauptthema behandelt. Da ich selbst heterosexuell bin, kann ich nur schwer beurteilen, ob Sara Farizan die Frage der Sexualität in einem Land wie dem Iran sensibel umgesetzt hat. Ich muss ihr vertrauen, dass die Gefühle, die Sahar und Nasrin durchleben, realistisch sind. Ich werde daher nicht versuchen, diesen Aspekt des Buches zu bewerten, denn es steht mir nicht zu.
Insgesamt fand ich „If You Could Be Mine“ interessant, aber etwas zu oberflächlich. Die sozialen Umstände im Iran klingen eher unterschwellig an, statt explizit beschrieben zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass Sara Farizan sich einerseits um eine objektive Darstellung bemühte und sich andererseits sehr stark auf ihre Protagonistin Sahar konzentrierte. Dadurch ging sie der deutlichen Kritik, die ich erwartet hatte, aus dem Weg. Angesichts der Tatsache, dass sie ihr Werk für Jugendliche geschrieben hat, ist das vermutlich sogar gewollt. Ich denke, sie zielte darauf ab, dass sich junge Leser_innen ihre eigene Meinung bilden. Das ist natürlich völlig in Ordnung, für mich allerdings nicht ganz passend. Ich wusste über die Zustände im Iran bereits vor der Lektüre Bescheid und habe mir dazu bereits meine Gedanken gemacht. Ich wusste jedoch nicht, dass Transsexualität dort legal anerkannt ist und der Iran deswegen weltweit auf Platz zwei hinsichtlich Geschlechtsangleichungen ist (hinter Thailand). Angeregt durch „If You Could Be Mine“ habe ich ein bisschen zu diesem Thema recherchiert und dabei herausgefunden, dass Sahars Fall nicht so ungewöhnlich ist, wie ich zuerst dachte. Tatsächlich glauben Therapeut_innen, dass 40 bis 50 Prozent der Transsexuellen, die eine Operation anstreben, eigentlich homosexuell sind. Eine Geschlechtsangleichung ist ihre einzige Chance, ihre Liebe und Sexualität offen ausleben zu können. Mich erschüttert das, denn ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was es bedeuten muss, so verzweifelt zu sein, dass man bereit ist, die eigene Identität aufzugeben. Die Frage, welche Opfer die Liebe eigentlich legitimiert, beschäftigte mich das ganze Buch über. Sahar wäre nach der OP nicht mehr sie selbst, wodurch auch die reale Möglichkeit besteht, dass Nasrin sie danach nicht mehr lieben kann. Ist es dann richtig, sich auf die Chance einer Chance einer gemeinsamen Zukunft zu verlassen? Nasrin hat sich für ein Leben in Sicherheit und gegen die Liebe entschieden – ist sie Sahars Aufopferung überhaupt wert? Meiner Meinung nach ist sie das nicht. Sie ist egoistisch, feige und bequem und nutzt Sahar bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus. Wenn ich ehrlich bin, kann ich sie nicht besonders gut leiden. Das Schlimmste daran ist, dass Sahar genau weiß, wie Nasrin ist. Ihr ist absolut bewusst, dass ihre Beziehung unausgeglichen und dementsprechend ungesund ist. Trotzdem kann sie nicht aus ihrer Haut – sie liebt Nasrin so sehr, dass sie offenbar so ziemliches alles für sie tun würde. Schmerzhaft, aber wahr.

 

„If You Could Be Mine“ ist meiner Meinung nach ein interessanter, unterhaltsamer Einstieg in die Thematiken Homosexualität, Transsexualität und Lebensumstände in anderen Ländern. Es lädt zu eigenen Gedanken und weiteren Recherchen ein. Ich denke, dass besonders Jugendliche – unabhängig von ihrer eigenen Sexualität – stark davon profitieren können, dass Sara Farizan ihren Leser_innen sanft einen Einblick in eine andere Welt eröffnet und so ihren Horizont erweitert. Ich hoffe sehr, dass sie dadurch Verständnis, Toleranz und Mut sät. Ich für meinen Teil bin nach der Lektüre von „If You Could Be Mine“ äußerst dankbar dafür, in einem Land zu leben, in dem ich für meine Gefühle nicht hingerichtet werde. Schlimm genug, dass das nicht selbstverständlich ist.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/10/14/sara-farizan-if-you-could-be-mine
More posts
Your Dashboard view:
Need help?