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review 2019-05-29 09:14
Anita, die Ein-Frau-Show
Blue Moon - Laurell K. Hamilton

Eines der wichtigsten Ereignisse in der Biografie von Anita Blake ist der Tod ihrer Mutter bei einem Autounfall, als sie 8 Jahre alt war. Dieses Schlüsselerlebnis ist kein Zufall und nicht rein fiktiv. Die Autorin Laurell K. Hamilton schöpfte hierfür aus ihrer eigenen Vergangenheit. Ihre Mutter Suzie Klein starb 1969 ebenfalls bei einem Autounfall. Hamilton war damals erst 6 Jahre alt. Sie wuchs deshalb bei ihren Großeltern auf. Ihre Großmutter war eine starke Frau, die Hamiltons Bewusstsein für das Übernatürliche früh prägte. Sie glaubte felsenfest an Geister, schwor, selbst Geister gesehen zu haben und erzählte ihrer Enkelin Geistergeschichten. Mit diesem Wissen finde ich es naheliegend, dass Anita Blake eine Nekromantin ist, die mit den Toten kommunizieren kann. Ob Hamiltons Großmutter ihr wohl auch Geschichten über Werwölfe erzählte? Diese stehen im achten Band „Blue Moon“ erneut im Fokus.

 

Anrufe mitten in der Nacht bedeuten für Anita Blake selten gute Nachrichten. Normalerweise wird sie von der Polizei von St. Louis an einen Tatort gerufen. Dieses Mal ist die Angelegenheit allerdings persönlich. Richard wurde in Tennessee festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, eine junge Frau vergewaltigt zu haben. Selbstverständlich sind diese Anschuldigungen lächerlich. Begleitet von ihren Werleoparden und Mitgliedern des Thronos Rokke – Rudels reist sie nach Myerton, wo Richard die örtliche Trollpopulation studieren wollte. Dort angekommen zeigt sich, dass es sich nicht um ein Missverständnis handelt. Richard wurde hereingelegt. Anita muss herausfinden, wer ihm die Vergewaltigung anhängte und wieso man ihn loswerden will – und zwar schnell, denn bald ist Vollmond…

 

Ich denke, mit „Blue Moon“ gab Laurell K. Hamilton den Anschein, in der „Anita Blake“-Reihe ginge es um übernatürliche Kriminalfälle, endgültig auf. Natürlich fußt dieser Band auf einer Ermittlung: der Aufhänger ist Richards Verhaftung in Myerton, Tennessee, wo er angeblich eine junge Frau vergewaltigt haben soll. Aber in Wahrheit konzentriert sich die Handlung auf Anitas ganz persönliches Chaos. Richards prekäre Lage ist nicht wirklich relevant und ich gestehe, dass Hamilton nicht einmal besonders überzeugend vortäuscht, es wäre anders. Im Fokus steht Anitas Überforderung mit ihren übernatürlichen Männern. Das Triumvirat, die Vampire, die Werleoparden, die Werwölfe – von allen Seiten zerren sie an ihr und wollen ein Stück von ihr. Nun könnte man argumentieren, dass die Rudel durchaus auch Frauen involvieren und meine Formulierung daher nicht die Gesamtheit der Situation abbildet. Dem muss ich widersprechen. Anita ist eine gnadenlose Ein-Frau-Show, was mir in „Blue Moon“ erstmals richtig bewusstwurde. Sie ist der Inbegriff der klischeehaften Stutenbissigkeit. Die einzige weibliche Figur, mit der sie aktuell zurechtkommt, ist die Werleopardin Cherry, die ich allerdings als Ausnahmeerscheinung wahrnehme, weil sie unstrittig devot ist und folglich weder Anitas Position gefährdet noch ihre Dominanz in Frage stellt. Ich fand diese Erkenntnis enttäuschend. Anita erwähnte einmal, dass sie genau dieses Verhalten von Frauen nicht mag. Es ärgert mich, feststellen zu müssen, dass nicht die anderen das Problem sind, sondern Anita selbst. „Blue Moon“ erschien mir deshalb als der bisher sexistischste Band, was einer der Gründe dafür ist, dass ich mich während der Lektüre teilweise unwohl fühlte. Der andere ist die Qualität der Gewalt, die ich durchstehen musste. „Anita Blake“-Romane sind niemals kuschlig-friedlich; Action, spritzendes Blut, Leichen und abgetrennte Körperteile gehören eben dazu. Trotz dessen war der Einfluss von sexualisierter Gewalt meinem Empfinden nach noch nie so deutlich wie in diesem. In Myerton treffen Anita und ihre Gefährten auf das ansässige Werwolfsrudel. Ich fand es interessant, die Diskrepanzen zwischen dem dysfunktionalen St. Louis-Rudel Thronos Rokke und diesem gesunden Verbund von Lykanthropen zu beobachten. Dieser Kontrast zeigte mir, wie wenig Richard und seine Wölfe davon verstehen, wie harmonisch das Miteinander einer solchen Gemeinschaft aussehen sollte. Anita sorgt wie immer für mächtig Trubel, weil sie und all ihre Freunde permanent im Dunkeln stochern. Niemand hat auch nur irgendeinen Plan davon, was vor sich geht und wie sich Anitas Rolle im Triumvirat, ihre Sensibilität für die Munin (Geister verstorbener Werwölfe) und ihre Position als Nimir-Ra der Werleoparden auf das heikle Verhältnis der Übernatürlichen auswirken. Die gefährliche Unwissenheit aller Beteiligten bescherte mir eine der schlimmsten Szenen, die die Reihe zu bieten hat: Anita wird vom gesamten Myerton-Rudel gejagt, mit dem Ziel, sie entweder zu vergewaltigen oder zu fressen. Ihre einzige Rettung ist Richard, der sie als Ulfric für sich beansprucht. Mir läuft es kalt den Rücken runter. Ich verstehe voll und ganz, warum einige Leser_innen „Anita Blake“ nach dem achten Band abbrachen.

 

Mein Fazit nach „Blue Moon“ lautet: Anita braucht eine Auszeit. Dringend. Sie muss sich entscheiden, was sie eigentlich will und wer sie ist. Laurell K. Hamilton wählte eine sehr brutale Strategie, um ihrer Protagonistin das klarzumachen. Die Handlung ist rasant wie eh und je, es ist jedoch das erste Mal, dass sie mir unangenehm war. Natürlich war das alles aufregend und für Anitas persönliche Entwicklung wichtig, doch das hätte man auch sanfter erreichen können und ich finde es einfach schade, dass es Hamilton nicht gelingt, Nebenhandlungslinien befriedigend auszuarbeiten. Ich hätte gern mehr über die Trolle und Dämonenbeschwörungen, die ebenfalls eine Rolle spielen, erfahren. Sie verschenkt so viel Potential. Ich kann all die Kritikpunkte nur deshalb ignorieren und Spaß an der Reihe empfinden, weil ich Anita liebe und meinen Kopf beim Lesen völlig ausschalten kann. Ich kann aber leider nicht garantieren, dass das für immer so bleibt. Ewig werden die Vorschusslorbeeren nicht vorhalten.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/05/29/laurell-k-hamilton-blue-moon
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review 2016-07-30 11:06
I would die for my country but I'd rather kill for it
The Autumn Republic - Brian McClellan

Die monatelange Reise hinter feindlichen Linien, stets auf der Flucht vor den Kez, hat ein Ende. Feldmarschall Tamas und seine Pulvermagier sind wieder in Adro. Der Feldmarschall ahnt nicht, dass ihn in seiner Heimat unangenehme Überraschungen erwarten. Er plant, sich schnellstmöglich mit den verbliebenen Truppen Adros zu vereinigen, doch die Armee ist durch Verrat tief gespalten und wurde in eine desaströse Lage manövriert. Sein Sohn Taniel Two-shot ist gezwungen, sich vor seinen eigenen Kameraden in den Bergen zu verstecken. Seine einzige Verbündete ist Ka-Poel, deren fremdartige, beängstigende Magie den Gott Kresimir in Ketten legte. Nun befindet sich die Essenz des Gottes in den Händen einer jungen Frau, die rein instinktiv handelt. Taniel muss sie und ihre riskante Fracht unbeschadet nach Adro bringen, weit weg von den Kez, um zu verhindern, dass der Gott erneut erwacht und in den Krieg eingreift.
Währenddessen wird in Adros Hauptstadt Adopest die erste demokratische Wahl vorbereitet. Die Ernennung eines Ersten Ministers soll das Machtvakuum füllen, das Tamas‘ Putsch hinterließ. Einer der Kandidaten ist der undurchsichtige Lord Claremonte, dessen Geheimnisse Inspektor Adamat beunruhigen. Er ist überzeugt, dass Claremonte mehr ist, als er zu sein vorgibt und sein Wahlsieg katastrophale Folgen hätte.
Adro gleicht einem Pulverfass. Das Land steht am Scheideweg. Erwartet die Menschen eine Zukunft in Frieden und Freiheit oder eine Zukunft im Zeichen der Gewalt?

 

Es verblüfft mich immer noch, dass mich militärische Fantasy zu begeistern vermag. Brian McClellans fabelhafte „Powder Mage“ – Trilogie überzeugte mich von diesem Subgenre und beseitigte meine Skrupel, sodass ich nun bereit bin, es für mich zu erforschen. Ich habe entdeckt, dass ich für das Gemeinschaftsgefühl und die Loyalität einer Armee sehr empfänglich bin. Ich kann nachvollziehen, warum sich Männer und Frauen entscheiden, unter einem charismatischen Anführer wie Feldmarschall Tamas zu dienen und ihm bis in den Tod folgen. Seine Überzeugungskraft ist unglaublich. Lauscht man seinen Worten, besteht kein Zweifel, dass man für das Richtige kämpft, dass seine Ideen es wert sind, das eigene Leben zu opfern – für eine bessere Zukunft, die in „The Autumn Republic“ mit einer Präsidialrepublik gleichgesetzt ist. Adro an der Schwelle zur Demokratie zu erleben fand ich unheimlich aufregend. Zum ersten Mal erhält das Volk eine Stimme und betritt einen Weg, der idealerweise zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit für alle führt. Leider ist in diesem krisengeplagten Land niemals etwas einfach, weshalb es mich nicht überraschte, dass der nebulöse Lord Claremonte fest entschlossen ist, in Adros Politik einzugreifen. Mein tief verwurzeltes Misstrauen ihm gegenüber teilte ich mit Adamat, der sich der Aufgabe annimmt, Claremonte zu demaskieren. Er findet heraus, dass Claremonte seine Fühler schon viel länger nach Adro ausstreckt, als er öffentlich behauptet, was impliziert, dass er bestimmte Ereignisse zu seinen Gunsten manipulierte. Wer weiß, vielleicht hatte er auch beim Putsch die Finger im Spiel? Die Möglichkeit, dass Tamas all die Jahre von äußeren Mächten beeinflusst wurde, empfand ich als ungeheuerlich. Er würde alles für sein Land tun, strebt immerzu das Beste für Adro an und ist eventuell doch nur eine unwissende Marionette in einem Spiel, das sich seiner Kontrolle entzieht. Meiner Ansicht nach unterstreicht das die Tragik, die seine Figur umgibt und betont seine Erschöpfung, die erst jetzt zu spüren war. Zu Beginn der Trilogie strahlte er eine unbeugsame, eisenharte Energie aus, doch nun ist er müde. Er will nicht mehr kämpfen. Diese durchaus realistische Entwicklung erschreckte mich, weil ich Tamas gern als unbesiegbar betrachte. Die Entwicklung seines Sohnes Taniel hingegen war sehr erfreulich. Taniel durchlebt einen umfassenden, überzeugenden Reifungsprozess. Ein verzogener, wütender Junge wächst zu einem verantwortungsbewussten Mann heran. Sicherlich trägt Ka-Poel ihren Teil dazu bei, denn trotz ihrer Wehrhaftigkeit sorgt sich Taniel permanent um sie. Ihre Kräfte erscheinen mir noch immer mysteriös, während ich die Elementarmagie der Privilegierten nun sehr viel besser begreife. Es gefiel mir außerordentlich, dass Brian McClellan sich im finalen Band seiner Trilogie noch die Zeit nimmt, diese wichtige Komponente seines Universums zu erklären. Er wartete den perfekten Moment ab, sodass seine Erläuterungen elegant und natürlich wirken, statt losgelöst von der Handlung im Raum zu schweben. Obwohl er meiner Meinung nach ein hohes Maß an Kontrolle ausübt, beweist McClellan auf diese Weise, dass er seinen Figuren und seiner Geschichte genau den Raum zur Entfaltung zugesteht, die sie benötigen. Es lohnt sich, ihm zu vertrauen.

 

Die „Powder Mage“ – Trilogie ist mit „The Autumn Republic“ abgeschlossen. Doch die Geschichte Adros ist es meiner Empfindung nach nicht. Es würde mich nicht wundern, wenn Brian McClellan irgendwann in der Zukunft noch einmal dorthin zurückkehrt. Ich hoffe es, schließlich verlässt man das Land zu Beginn einer neuen Ära. Adro erwarten wilde Zeiten und ich möchte nicht eine Sekunde davon verpassen. Vorerst werde ich mich allerdings damit zufriedengeben, ein anderes Land in McClellans Universum kennenzulernen: Fatrasta. Fatrasta ist der Schauplatz seiner nächsten Trilogie (?), deren erster Band „Sins of Empire“ im März 2017 erscheinen soll, welchen ich mir natürlich nicht entgehen lassen werde. Die „Powder Mage“ – Trilogie überzeugte mich von McClellans schriftstellerischem Talent und eröffnete mir eine Sparte der Fantasy, von der ich bisher annahm, sie würde nicht zu mir passen. Die drei Bände strotzen nur so vor Kreativität, Originalität, politischem Verständnis und strategisch-militärischem Wissen, vernachlässigen aber auch das Emotionale nicht. Ich fand diese Mischung großartig und kann euch die Trilogie guten Gewissens empfehlen.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/07/29/brian-mcclellan-the-autumn-republic
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review 2016-06-07 09:46
Von Leid, Verwundung und Vergebung
Carthage LP - Joyce Carol Oates

Corporal Brett Kincaid kehrte verwundet aus dem Krieg zurück, äußerlich wie innerlich traumatisiert. In seiner Heimatstat Carthage wird von ihm erwartet, dass er das Leben wiederaufnimmt, das er für den Kampf gegen den Terrorismus hinter sich ließ. Doch Brett kann nicht. Er löst die Verlobung mit Juliet Mayfield und zieht sich zurück. Die Erinnerungen an den Irak quälen ihn, lassen ihn nicht schlafen und suchen ihn noch am Tage heim. Verzweifelt versucht er, zu vergessen, kombiniert Medikamente mit Alkohol. Als er am 10. Juli 2005 in seinem Auto am Straßenrand aufgegriffen wird, kann er nicht erklären, woher das Blut im Wagen stammt. Er erinnert sich vage, die Nacht in einer Kneipe verbracht zu haben. Er erinnert sich, dass Cressida Mayfield, Juliets jüngere Schwester, dort war. Danach verschwimmt alles in einem ungewissen Nebel. Offenbar war er der letzte, der Cressida lebend gesehen hat. Während die Stadt fieberhaft nach dem verschwundenen Mädchen sucht, sieht sich Brett mit Anschuldigungen konfrontiert. Könnte er tatsächlich etwas mit Cressidas Verschwinden zu tun haben? Hat er etwas Unverzeihliches getan? Verwirrt und unfähig, seinen Erinnerungen zu trauen, beginnt für Brett ein Kampf mit seinem Gedächtnis, der ihn Jahre seines Lebens kosten wird.

 

„Carthage“ von Joyce Carol Oates ist schwer verdauliche Kost. Meine Lieblingsautorin befasst sich niemals mit einfachen Themen, doch dieses Mal bewegte sie sich am äußersten Rand meiner Wohlfühlzone. Das Buch forderte mich ungemein, weil Oates darin meiner Meinung nach von ihrem üblichen Schreibstil abweicht. Ich kenne sie als mitfühlende Autorin, die jede Facette der Psyche ihrer Figuren nachvollziehbar und explizit ausarbeitet. In „Carthage“ hingegen bekam ich nichts geschenkt. Ich erhielt tiefe Einblicke in die Seelen der Akteure, in ihre Gedanken- und Gefühlswelten, doch es war mir selbst überlassen, diese zu analysieren und interpretieren. Ich musste mich anstrengen, um zu verstehen, was Brett, Cressida und ihre Familien antreibt und bewegt, obwohl sie realistische, hyperlebendige Figuren mit psychologisch dichten Profilen sind. Es war besonders schwierig, sich in Bretts chaotischen Gedanken zurechtzufinden. Ich habe mich in seiner Perspektive sehr unwohl gefühlt, weil mir seine Psyche wie ein klaustrophobisches Labyrinth erschien, verwundet und verwirrend. Trotzdem wusste ich die erzwungene Konfrontation mit ihm sehr zu schätzen, denn andernfalls hätte ich nicht begriffen, wie mächtig sich eine posttraumatische Belastungsstörung auswirkt und wie inadäquat US-amerikanische Veteran_innen behandelt werden. Sie werden im Alltag allein gelassen, weggeworfen wie menschlicher Abfall. PTBS scheint in den Staaten tabuisiert zu werden; es gibt kaum Bemühungen, Kriegsheld_innen nach ihrem Dienst wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Rein abstrakt wusste ich natürlich, dass die Thematik in den USA heiß diskutiert wird und es für Veteran_innen eine große Herausforderung ist, sich ein neues Leben aufzubauen, doch mit Oates harter, brutaler Darstellung der Realität habe ich nicht gerechnet. „Carthage“ ist absichtlich unbequem. Es trifft die US-Bevölkerung zielsicher an einer empfindlichen Stelle: ihrem Patriotismus. Schonungslos illustriert es, wie wenig Soldat_innen für ihre Bereitschaft, ihr Leben für ihre Heimat zu riskieren, zurückerhalten und was der Dienst an der Waffe mit ihnen anrichten kann. Selbstverständlich ist Bretts Schicksal ein extremer Fall, ich halte ihn grundsätzlich allerdings für nicht so ungewöhnlich.
Auffällig wird diese Geschichte durch Cressida, eine launische, eigenwillige junge Frau, mit der ich mich kaum identifizieren konnte. Sie ist keine Figur, für die man leicht Sympathie aufbaut, denn sie weist paradoxe, widersprüchliche Charakterzüge auf. Einerseits ist sie egoistisch, arrogant und herablassend, völlig von sich und ihrem Glauben an ihre intellektuellen Fähigkeiten eingenommen; andererseits ist sie zutiefst verunsichert und unfähig, sich als liebenswert einzuschätzen. Sie ist nicht in der Lage, mit Ablehnung oder Enttäuschung umzugehen und neigt zu hemmungslos überzogenen Reaktionen. Vermutlich leidet sie unter einer psychischen Erkrankung (vielleicht Borderline), was ihren massiven Zwang, sich auf psychischer, emotionaler Ebene wieder und wieder zu verletzen und zu bestrafen, erklären würde. Sie stößt alle Menschen von sich weg, verdammt sich zu einem Leben in Einsamkeit, weil sie glaubt, es nicht anders zu verdienen. Es war sicher nicht hilfreich, dass ihre Familie stets auf Zehenspitzen um sie herumschlich, ohne ihr jemals Grenzen aufzuzeigen. Wahrscheinlich hätte sie genau das gebraucht. Ich glaube, ich hatte während der Lektüre nur ein einziges Mal positive Gefühle für sie: im Epilog.

 

„Carthage“ ist ein anstrengendes, unangenehmes Buch. Es handelt von Leid und Verwundung, veranschaulicht aber auch das Motiv der Vergebung. Joyce Carol Oates kritisiert indirekt und regt zum Nachdenken an, ohne anzugreifen. Ihren Stil empfand ich als ungewohnt, weil er nichtlinear ist, doch ich bezweifle, dass ihre Geschichte die gleiche Wirkung entfaltet hätte, hätte sie sie säuberlich geordnet niedergeschrieben. Sie verfolgte eine Strategie, wollte Chaos und Verwirrung vermitteln, um ihren Leser_innen die Situation ihrer Figuren näher zu bringen. Für mich ging diese Taktik auf. „Carthage“ hat mich sehr berührt und stieß einige Gedankengänge an, mit denen ich mich sonst wohl nie beschäftigt hätte. Trotz dessen weiß ich, dass dieses Buch nicht bei allen Leser_innen Begeisterungsstürme auslösen wird. Es ist kontrovers und stilistisch fast schon experimentell, daher solltet ihr euch vor dem Kauf unbedingt eine Leseprobe zu Gemüte führen. Ihr müsst wissen, worauf ihr euch einlasst, damit ihr einschätzen könnt, ob es euch den mentalen Aufwand wert ist, herauszufinden, was Brett Kincaid und Cressida Mayfield miteinander verbindet.

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review 2015-12-27 11:47
Schlechtes Erwartungsmanagement
Tintenherz (Tintenwelt, #1) - Cornelia Funke

Gibt es eine deutschsprachige Autorin, die den Titel „Bestsellerautorin“ wirklich verdient, dann ist es Cornelia Funke. Seit Ende der 80er Jahre im Geschäft, lag ihre Gesamtauflage 2012 bei Sage und Schreibe 20 Millionen Büchern. Ihre Romane wurden bislang in 37 Sprachen übersetzt und 2005 wählte sie das TIME Magazine unter die 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten.
Trotz Funkes enormen Erfolgs und jahrelanger, euphorischer Schwärmerei seitens meiner Mutter brauchte ich sehr lange, bis ich bereit war, „Tintenherz“ endlich eine Chance zu geben.

 

Meggie und ihr Vater Mo führen ein ungewöhnliches, aber ruhiges Leben. Als Buchbinder ist Mo viel unterwegs, um Büchern überall auf der Welt ein neues Kleid zu schenken. Seine Tochter begleitet ihn oft auf seinen Reisen, denn die Liebe zu den Büchern verbindet sie. Niemals hätte Meggie erwartet, dass ausgerechnet ein Buch ihr Leben völlig durcheinanderbringt. In einer besonders ungemütlichen Nacht klopft ein mysteriöser Gast an ihre Tür. Seltsamerweise scheint Mo den Mann zu kennen, doch sein Besuch ist ihm offenbar unangenehm. Am nächsten Morgen brechen sie Hals über Kopf zu Meggies verschrobener Tante Elinor auf. Bevor sie abfahren, beobachtet Meggie Mo dabei, wie er ein merkwürdiges kleines Buch einpackt, das Meggie noch nie zuvor gesehen hat. Bei Elinor angekommen, bittet Mo sie, eben dieses Buch in ihrer gewaltigen Bibliothek zu verstecken. Warum will Mo das Buch verbergen und wieso weigert er sich, Meggie zu erklären, was es damit auf sich hat? Als böse Männer in Elinors Haus einbrechen, das Buch stehlen und Mo entführen, stürzen Vater und Tochter in das Abenteuer ihres Lebens – voller Magie, Geheimnissen und Gefahren.

 

„Tintenherz“ ist für mich ein Rezensionsschreckgespenst. Selbst während ich hier sitze und tippe, weiß ich eigentlich nicht, was ich schreiben soll. Ich gebe das ganz ehrlich zu, denn ich glaube einerseits, dass das allen Rezensent_innen ab und zu passiert und andererseits, dass die Tatsache, dass mir nichts einfällt, bereits einiges darüber aussagt, wie ich das Buch fand. Deswegen wird dies hier keine reguläre Rezension, denn ich bin nicht in der Lage, „Tintenherz“ wie jedes andere Werk zu analysieren. Stattdessen möchte ich euch erklären, was mich blockiert und warum.
Nach der Lektüre von „Tintenherz“ habe ich mich mit meiner Mutter über Erwartungsmanagement unterhalten müssen. Es tut mir unheimlich leid um das Buch, doch aufgrund ihres jahrelangen Überschwangs waren meine Erwartungen astronomisch, unrealistisch hoch. Sie hat das Buch in meinem Kopf größer werden lassen, als es eigentlich ist, wodurch mich die tatsächliche Erfahrung des Lesens enttäuscht hat. Die ganze Zeit wartete ich darauf, dass all das Spektakuläre, das ich in die Worte meiner Mutter hineininterpretierte, passierte. Ich konnte nicht wissen, dass meine Erwartungshaltung unmöglich zu erfüllen war. Darüber hinaus wurde mir klar, dass sie mir bereits lange vor der Lektüre das wichtigste Detail der Geschichte verriet. Sie hat mich heftig gespoilert. Das ist das erste Mal, dass sich meine Kenntnis eines entscheidenden Bausteins unbestreitbar auf mein Lesevergnügen auswirkte.
Ich kann „Tintenherz“ nicht objektiv bewerten, weil ich nicht weiß, wie es auf mich gewirkt hätte, wären meine Erwartungen nicht total übersteigert gewesen. Meine Enttäuschung ist so dominant, dass sie jedes andere Gefühl überdeckt und unterdrückt. Der Versuch einer normalen Rezension wäre deswegen äußerst unfair, denn es liegt nicht an der Geschichte selbst, dass ich unzufrieden bin. Glaube ich zumindest. Ich denke schon, dass sie mir hätte gefallen können, obwohl ich überzeugt bin, dass ich den allgemeinen Hype trotz dessen nur schwerlich nachvollziehen könnte. Dafür hätte ich sie vermutlich wesentlich eher lesen müssen, nicht erst mit Mitte 20.
Ich hoffe nun stark auf die Fortsetzung der Trilogie, über die ich rein gar nichts weiß. Ich fand den Auftakt ja nicht schlecht, er war nur nicht das, was ich erwartet hatte. Ich möchte mich nicht damit abfinden, dass sich alles, was ich für „Tintenherz“ empfinde, durch ein Schulterzucken ausdrücken lässt. Für mich ist diese Situation nicht akzeptabel, denn ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sich so viele Leser_innen weltweit irren sollen. Nein, ich bin das Problem, dessen bin ich sicher.

 

Manchmal ist die Beziehung zu einem Buch durch äußere Faktoren kompliziert. Erwartungen sind eine heikle Angelegenheit. Wie ihr seht, ist die begeisterte Schwärmerei über ein Buch in diesem Fall mächtig nach hinten losgegangen. Ich möchte noch einmal betonen, wie leid es mir um „Tintenherz“ tut. Ich laste es weder Cornelia Funke noch der Geschichte an, dass mich die Lektüre nicht so glücklich gemacht hat, wie ich es mir gewünscht hätte. Es tut mir auch leid, dass ich euch dieses Mal keine richtige Rezension anbieten kann, aber ich komme an meinem Gefühl der Enttäuschung einfach nicht vorbei. Ich würde euch gern einen Eindruck von Schreibstil, Handlungskonstruktion und Charakterkonzipierung vermitteln, doch ich dringe nicht zu meinem analytischen Ich hindurch. Für mich ist das eine unangenehme Erfahrung, allerdings ist es auch eine wichtige Lektion, die ich bereits an meine Mutter weitergereicht habe. In Zukunft wird sie sich bestimmt etwas besser beherrschen und sich auf die Zunge beißen, bevor sie mir ein entscheidendes Detail verrät. ;)
Wenn ihr „Tintenherz“ bereits gelesen habt, verratet mir doch, was euch daran begeisterte. Vielleicht brauche ich einfach eine andere Perspektive, um zu sehen, was an der Geschichte so wundervoll ist, dass sie weltweit geliebt wird.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/12/27/cornelia-funke-tintenherz
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