Was ja in der Literaturwelt offensichtlich hinlänglich bekannt sein dürfte, ist der Umstand, dass Max Frisch in diesem Roman einen Kunstgriff - für mich aber quasi eine verlogene Finte - gewählt hat, um über sich selbst zu schreiben und sich selbst von außen zu analysieren, indem er den Protagonisten dem Verdacht aussetzt, die Identität des Herrn Stillers aufzuweisen. Dies weist die Hauptfigur des Romans aber ganz entschieden von sich und geht ihrerseits nun heran, diesen Herrn Stiller, für den er fälschlicherweise beziehungsweise nicht fälschlicherweise gehalten wird, aus der Perspektive des externen Beobachters zu betrachten, allmählich zu erforschen und zu analysieren.
Diesen Kunstgriff mag man genial finden, muss man aber nicht. Mir stößt so etwas aus mehreren Gründen sehr sauer auf. Erstens finde ich es extrem eitel, sich selbst zu analysieren, ohne seine eigene Person ins Spiel zu bringen. Natürlich haben oft Figuren von Autoren autobiografische Züge, dann werden sie aber entweder von Innen- oder von der Außenansicht her beschrieben, aber in diesem Fall spielt Frisch gleichzeitig Patient der leidet, Therapeut der interpretiert und versucht zu heilen und Videokamera, die beobachtet (man kann als Analogie auch nicht, Gesetzgeber, Staatsanwalt, Verteidiger, Richter und Exekutive gleichzeitig sein, auch in der Psychologie sollte es sinnvollerweise eine Gewaltenteilung geben). So etwas ist erstens nicht zielführend, kann nicht funktionieren und ist auch ethisch recht verwerflich, deshalb ist es ja auch Therapeuten untersagt, sich selbst zu analysieren, im Gegenteil, sie sind verpflichtet, in regelmäßigen Abständen einen anderen professionellen Therapeuten aufzusuchen. Was also bei dieser sogenannten "Analyse" sinnvollerweise herauskommen kann, ist nie eine richtige Analyse sondern nur eine eitle larmoyante, selbstverliebte peinliche Rechtfertigung des Charakters und der Taten ohne einen Millimeter Weiterentwicklung, die ja bei einer derartigen Selbstzentrierung gar nicht stattfinden kann. Ach ja die gemeinhin oftmals hineininterpretierte Identitätsfindung kann ich nicht finden.
Selbst bei einem relativ normalen Menschen funktioniert das nicht, bei einem egozentrischen selbstverliebten Menschen wie dem Herrn Frisch-Stiller, ich will nun nicht das Wort Narzissmus in den Mund nehmen, denn das ist eindeutig eine Persönlichkeitsstörung, die ich mir nicht anmaße zu treffen, (aber 6 meiner wirklich guten Freundinnen könnten das, wenn Sie das Buch gelesen hätten,) ist die ganze hier ausgebreitete therapeutische Geschichte nur ein gähnend langweiliges Kreisen von Rechtfertigungen um eine nicht gerade spannende Persönlichkeit auf Grund ihrer atemberaubenden Egozentrik.
Da kommen wir nun zu einem weiteren Ärgerfaktor. Wenn ich mir überlege, wieviele Junge Burschen diese Hauptfigur (Stiller - bzw. Nicht Stiller) und auch den Staatsanwalt Rolf der so ein bisschen aus der NLP-Ecke (die es ja damals als NLP noch nicht gab sondern nur die psychoanalytischen Grundlagen) zu stammen scheint, weil er permanent als krasses Gegenteil zu "Stiller" soviel seiner Partnerin spiegelt und doch soviel manipuliert, als zwei wesentliche männliche Role-Models in den schwierigen Zeiten der Pubertät vorgesetzt bekommen haben, dann steigen mir wirklich die Grausbirnen auf. Ich wundere mich dann wirklich nicht, dass auch noch in so vielen Köpfen ein derart arges unrealistisches duldendes Frauenbild der Frau Julika, die auch noch selbst schuld ist, wenn sie krank am Boden liegt und der man natürlich auch jede Hilfe verwehren muss. Oh ja, da sind wir wieder bei einem grausamen menschenverachtenden Charakterzug, der hier ganz ordentlich bis fast auf die letzten Seiten ausgewalzt und glorifiziert wird, dass man einer Partnerin nicht helfen will, denn erstens hat sie die Kalamitäten durch was auch immer - Gott oder was anderes - selbst verdient, zweitens ist man ja selbst der Leidende, weil man mit der Schwäche des Partners belästigt wird und drittens wenn man hilft, erniedrigt man sich selbst und wird unmännlich. Was für ein Scheißdreck.
Das ganze gipfelt sogar in ernstgemeinten nicht widersprochenen Aussagen wie zum Beispiel der Umstand, dass sich eine Frau, die sich intensiv um ihr Kind kümmert, das aus purem Narzissmus tut? WTF für ein egozentrischer MUMPITZ. Hier wird wie vieles andere ein Männerbild propagiert von Typen, die auch in Kauf nehmen würden, dass ihr Baby stirbt, nur weil sie die Nr. 1 Position bei der Frau auch nach der Geburt des Kindes nicht aufgeben wollen. Im Roman das dreißigste Jahr habe ich die Kurz-Geschichten von Ingeborg Bachmann um derartige zahlreiche Figuren stark kritisiert, da ich ein solches allgemeines Männerbild bei all meinen feministischen Ansichten einfach nicht für zulässig halte und Bachmann vier oder fünf unterschiedliche Figuren ausschließlich mit solchen Charakterzügen konzipiert hat. Wäre sie ehrlich gewesen und hätte nur über eine Figur, respektive Max-Frisch oder ein Pseudonym seiner Person geschrieben, dessen charakterliche Einzelaspekte offensichtlich in nahezu alle Figuren im dreißigsten Jahr einflossen, dann hätte ich dieses Werk für viel wahrhaftiger gehalten, denn ein bis zwei faule Äpfel im Meer der männlichen Achetypen sind doch zulässig und realistisch und vernadern nicht die gesamte restliche Männerwelt.
So nun komme ich von meiner persönlichen Meinung wieder mal weg in weit objektivere Gefilde. Durch diese stilistische Konstruktion quasi eine autobiografische Rechtfertigung getarnt als Analyse schreiben zu wollen, ohne sich selbst ins Spiel zu bringen, ist der Plot des Romans total unglaubwürdig und komplett verhunzt - so ein richtiger Schwachsinn. Da ich manisch plotorientiert bin und logische Fehler mich zur Weißglut treiben, kann mich mir folgende Anklagen an den Autor nicht verkneifen: Warum wird Stiller von allen in Untersuchungshaft derart hofiert? Warum hat in der Schweiz ein Untersuchungshäftling Freigang? Wenn kein Kapitalverbrechen oder Verdunkelungsgefahr vorliegt, muss er entweder völlig enthaftet werden und sich regelmäßig melden oder er sitzt rund um die Uhr in Einzelhaft - etwas dazwischen ist komplett unlogisch. Einen Freigang unter Tags gibt es nicht vor einer Gerichtsverhandlung, sondern nur danach bei leichteren unbedingten Delikten oder bei schweren Delikten kurz vor der Entlassung mit Reststrafe auf Bewährung. Ich kenne mich da wirklich gut aus. Habe doch fast 35 Jahre in Krems und Steyr gleich neben Justizanstalten für Schwerverbrecher gelebt und gearbeitet.
Frisch erzählt also nicht wirklich eine konsistente Geschichte, was für mich aber in einem Roman unabdingbar ist - tut aber so als ob - und das kann ich gar nicht leiden. Gewürzt ist der Plot noch mit abstrusen münchhausischen Abenteuergeschichtln, die nichts mit der eigentlichen Handlung zu tun haben, die auch das männliche junge Publikum, das offensichtlich noch nicht aus seiner Karl May-Phase herausgewachsen ist, adressiert und verleiten soll, den Roman zu mögen und gnädig zu beurteilen. Die Vierecks-Beziehungsgeschichte ist auf Grund der verkappten und sehr gestörten Persönlichkeiten auch eher mühsam und alles andere als spannend.
Das einzige, was Stiller für mich persönlich den zweiten Stern eingebracht hat, ist die brilliante Gesellschaftskritik am Wesen des Schweizers- des Schweizer-Seins. Wenn Max Frisch nach außen analysiert, kann er das plötzlich extrem glaubwürdig, mit spitzer Feder, etwas boshaftem Humor und gnadenloser Brillanz. Ich habe vier Saisonen also insgesamt 12 Monate in diesem Land gelebt und gearbeitet und musste oft herzlich lachen. Zu jeder Aussage des Autors kann ich mehrere Gschichtln aus eigener Erfahrung dazusteuern. Da wird beispielsweise die Affenliebe zum Militär, das überhebliche selbstüberschätzende Großmannstum (quasi wird dem Ausländer [Uslanda] immer die inkompetente kleine Maus, die brüllte vorgeführt, alles ist am besten am schönsten und am intelligentesten in der Schweiz), die Unfähigkeit zur Selbstkritik, der Nationalismus, und die Fiktion von unendlicher nationaler Freiheit in einer total unfreien Gesellschaft voller Konventionen. Alles wird sehr treffend zerlegt oder auch der Umstand thematisiert, dass die Körperpflege der Schweizer in bemerkenswertem Widerspruch zur sonstigen Reinemacherei steht. Wie gesagt, zu jedem dieser Gesellschaftskritikpunkte habe ich mindestens ein eigenes kurioses Erfahrungs-Gschichtl.
Was mich auch noch schockiert hat, sind tatsächlich kapitale Deutschfehler des Surkamp-Verlages, so etwas muss ich nicht dem Autor ankreiden, denn wozu gibt es denn Lektoren. Ich versteh das wirklich nicht die Erstausgabe ist auf Deutsch erschienen ergo fallen Übersetzungsfehler weg. z.B.
-Wir [Hier] können wir nicht stehenbleiben S80,
- Daß Ostern waren [war], zeigte sich hier, nach dem Verstummen der [des]morgendlichen Kirchengeläute[s], nur noch an einem übermäßigen Verkehr auf der Überlandstraße.
Ihr seht schon, in den eckigen Klammern habe ich gleich den Rotstift angesetzt. Das sind nur zwei krasse Beispiele, andere habe ich nicht angezeichnet, aber noch ein paar Fallfehler und falsche Präpositionen gefunden. Ich bin ja die erste, die drüberliest, weil mein Hirn gern und recht gut antizipiert, aber wenn es sogar mir auffällt, ist es ein gravierendes Problem....
Uff! Das war jetzt leider ein bisschen lang - ich hoffe, Ihr habt Euch noch nicht gelangweilt
Fazit: Dieser Klassiker ist für mich für die Tonne. Jetzt stellt sich nun aber die Frage, ob dieses Buch wirklich im Vergleich zu anderen von Frischs Werken wie Andorra oder Homo Faber, die ich in der Pubertät begeistert gelesen habe, so abstinkt, oder ich mich vielleicht weiterentwickelt habe. Das ist hier nämlich die Einserfrage. Wiewohl ich mir schenke, Andorra und Homo Faber erneut zu lesen und einer aktuellen Bewertung zu unterziehen. Dazu ist mir einfach meine Lebens- bzw. Lesezeit zu schade und mein SUB ist auch noch bei 280 real verfügbaren Büchern, die gelesen werden wollen. Es einfach gibt zu viele Werke, die so brilliant sind und sehnsüchtig auf meine Endeckungsreise warten. Deshalb schließe ich mit einer Aussage, die ich sicher tätigen kann. Jede Zeit hat auch ihr Buch und ihre spezifische Bewertung. Das kann ich eindeutig sagen.