Ich könnte heute nicht mehr sagen, wann mein Interesse am Motorradclub Hell’s Angels begann. Ich gehe davon aus, dass Hunter S. Thompsons literarische Reportage „Hell’s Angels“ großen Anteil daran hatte, die ich las, als ich etwa 20 Jahre alt war. Der exzentrische Journalist reiste in den 60er Jahren mit dem Club. Seine Schilderungen faszinierten mich. Er malte das Bild wilder, unbeugsamer, freiheitsliebender Männer, die sich von niemandem etwas sagen ließen und eigene Gesetze schrieben. Ihre Lebensauffassung brachte meinen eigenen Freiheitsdrang, der in meiner Jugendzeit stark ausgeprägt war, zum Singen. Ich sah in ihnen moderne Piraten, Rebellen und fühlte mich zu ihren Idealen hingezogen.
Es dauerte Jahre, bis ich bereit war, einzusehen, dass meine romantischen Vorstellungen der Hell’s Angels vollkommen verklärt waren. In den Medien häuften sich Berichte von kriminellen, mafiaähnlichen Strukturen, schweren Straftaten wie Zuhälterei, Drogen- und Waffenhandel und blutigen Fehden, die nicht selten in Rachemorden gipfelten. Ich fühlte mich desillusioniert und enttäuscht. Diese Nachrichten hatten nichts mit der sympathischen Bande ruppiger Aussteiger zu tun, die ich in „Hell’s Angels“ kennengelernt hatte. Heute weiß ich, dass ich das immense kriminelle Potential des Clubs, das sich bereits in den 60ern andeutete, einfach ignorierte. Ich wollte es nicht sehen.
Mit der Erkenntnis kam die Ernüchterung. Je öfter ich Nachrichten sah oder las, die die gewalttätigen oder illegalen Exzesse der Hell’s Angels dokumentierten, desto weniger verstand ich, wie aus einem Haufen Verlierer, die der Gesellschaft freiwillig den Rücken gekehrt hatten, eine strikt organisierte, globale, kriminelle Vereinigung werden konnte. Diese Frage beschäftigt mich noch immer. Deshalb nahm ich mir im Februar 2019 die biografischen Aufzeichnungen des Mannes vor, der es meiner Ansicht nach am besten wissen musste: Ralph »Sonny« Barger, Gründungsmitglied und langjähriger Präsident der Hell’s Angels.
Ralph Hubert »Sonny« Barger wurde am 08.10.1938 in Kalifornien geboren. Er wuchs mit seiner älteren Schwester bei seinem alkoholkranken Vater auf, seine Mutter hatte die Familie verlassen, als er ein Baby war. Der junge Ralph fiel früh als schwieriges Kind auf, er prügelte sich oft, hatte kein Interesse an Bildung und griff sogar seine Lehrer_innen an, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. 1955, im Alter von 16 Jahren, beschloss Barger, seine schulische Karriere zu beenden und trat in die Army ein. Die Altershürde beseitigte er kurzerhand, indem er seine Geburtsurkunde fälschte. Sein Betrug fiel erst 14 Monate später auf. Nach 18 Monaten Dienstzeit wurde er mit vollen Ehren entlassen. Das klingt aus heutiger Sicht unglaublich, doch es waren eben andere Zeiten.
Zurück in Kalifornien kaufte er sich 1956 sein erstes Motorrad und trat seinem ersten Club bei, den Oakland Panthers. Er suchte nach einer Ersatzfamilie, nach Männern, die ähnliche Prioritäten setzten wie er selbst: Freiheit und die Ablehnung jeglicher Autorität und Regeln. Er erlebte einige Enttäuschungen mit „Wochenendfahrern“, bis er 1957 mehrere kleinere Clubs in Kalifornien zu einem einzigen zusammenschloss: den Hell’s Angels. Das Oakland Chapter (Charter, in der Terminologie des Clubs) war geboren und Barger wurde zum Präsidenten ernannt. Es folgten wilde Jahre voller Kriminalität, Drogen, Alkohol, Partys, Frauen und Knastaufenthalte. Die Hell’s Angels gewannen stetig an Popularität, erarbeiteten sich einen gewissen Ruf und weiteten sich erst über die USA und später weltweit aus.
Barger war mittendrin. Er führte ein Leben am Limit. 1982 forderten die Exzesse ihren Tribut. Er erkrankte an Kehlkopfkrebs und stand an der Schwelle des Todes. Lediglich eine Operation, in der ihm der Kehlkopf (inklusive Stimmbänder) vollständig entfernt wurde, rettete ihn. Er gab das Rauchen auf und erlernte über ein Tracheostoma (laut Wikipedia eine künstliche Verbindung zwischen Luftröhre und äußerer Umgebung) das Sprechen neu. 1998 zog er nach Arizona, weil das Klima in dem tendenziell heißen Bundesstaat seiner Gesundheit guttat, hängte das Präsidentenamt an den Nagel und eröffnete eine Motorradwerkstatt. Heute ist Ralph »Sonny« Barger ein ganz normales Mitglied der Hell’s Angels und lebt noch immer bei Phoenix.
Barger hatte stets ein etwas zwiespältiges Verhältnis zu den Medien und der Presse. Während er die meisten Journalisten als Schmierfinken betrachtet und an Hunter S. Thompson kein gutes Haar lässt, arbeitete er immer gern mit Filmproduktionsfirmen als Berater und sogar als Darsteller zusammen. Leicht verdientes Geld. Vielleicht erinnern sich einige von euch an seine Gastrolle als Lenny „The Pimp“ Janowitz in der Serie „Sons of Anarchy“.
Er schrieb mehrere Bücher, die sich – Überraschung – thematisch alle mit dem Motorradfahren und Motorradclubs befassen. „Hell’s Angel: Mein Leben“ ist Bargers schriftstellerisches Debüt, das er zusammen mit den Autoren-Brüdern Keith und Kent Zimmerman verfasste. Darin wagt Barger einen schonungslos persönlichen Rückblick auf die Hell’s Angels: auf seine Vergangenheit, die Gründung des Clubs und seine Zeit als Präsident bis 1998.
Nach diesem langen Vorlauf erwartet ihr vermutlich eine ähnlich umfangreiche Rezension. Leider muss ich euch enttäuschen. Es gibt nicht viel über „Hell’s Angel: Mein Leben“ zu berichten. Man muss es nicht gelesen haben, nicht einmal, wenn man sich für die Hell’s Angels interessiert. Ralph »Sonny« Barger ist kein guter Autobiograf. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was aus dieser willkürlichen Aneinanderreihung von Erinnerungen und Anekdoten geworden wäre, wäre er nicht von den Autoren Keith und Kent Zimmerman unterstützt worden. Ich denke, es ist ihnen zu verdanken, dass „Hell’s Angel: Mein Leben“ zumindest über eine grobe zeitliche Linearität verfügt und thematische Schwerpunkte ansatzweise bündelt. Ohne sie hätte ich es wahrscheinlich mit einem noch viel chaotischeren Kuddelmuddel zu tun bekommen. Ich glaube nicht, dass Barger wirklich Interesse daran hatte, seinen Leser_innen einen zuverlässigen Überblick über seine Vergangenheit zu bieten. Meiner Meinung nach schrieb er dieses Buch primär für sich selbst. Er folgt keiner erkennbaren Chronologie oder Struktur, springt zwischen den Jahren hin und her und bemüht sich nicht, Situationen nachvollziehbar zu schildern. Hintergründe und Emotionen klammert er meist komplett aus, sodass ich zwar verstand, was geschehen ist, aber nicht, wie er sich dabei fühlte oder was ihn motivierte und bewegte. Sein ungeschönter Erzählstil provoziert, er nimmt kein Blatt vor den Mund. Prinzipiell ist mir eine authentische Erzählweise immer lieber als jede glattpolierte Rhetorik, in diesem Fall hinterließ die Mischung aus vulgärer Sprache und absoluter Subjektivität allerdings einen Beigeschmack von Selbstbeweihräucherung. Barger findet sich selbst und die Hell’s Angels schon ziemlich geil. Er romantisiert, idealisiert und verharmlost sein gewaltgeschwängertes Leben vor und innerhalb des Clubs und zeigt keinerlei Unrechtsempfinden. Im Gegenteil, er inszeniert ein lächerliches Opfernarrativ und wagt es, zu behaupten, die Hell’s Angels, die ja nur Motorrad fahren wollten, seien stets grundlos von Autoritäten und Gesellschaft schikaniert worden. Klar. Die Bemühungen der Strafverfolgungsbehörden hatten natürlich nichts mit den illegalen Aktivitäten des Clubs zu tun. Beschwert er sich nicht gerade, wie furchtbar ungerecht die Welt ist, prahlt Barger und stellt Theorien auf, für die er keine Belege liefert. Beispielsweise schwört er, Harley Davidson orientierte sich bei der Gestaltung ihrer Motorräder an den Hell’s Angels und Polizeikonvois anlässlich von Beerdigungen seien ebenfalls nach dem Vorbild des MC eingeführt worden. Mag alles sein, ist seinerseits jedoch lediglich eine Vermutung, die er als Fakt darstellt. Diese Verzerrung der Wahrheit zieht sich wie ein roter Faden durch „Hell’s Angel: Mein Leben“. Barger hat niemals Schuld und was in Ermittlungsakten steht, ist ohnehin gelogen. Er ist unreflektiert, unreif, gesteht keinen einzigen Fehler ein und ist offenbar nicht im Stande, sich selbst kritisch zu betrachten. Deshalb ist dieses Buch nicht das wertvolle Dokument, das ich mir erhofft hatte. Es sagt wesentlich mehr über die verschobene Wahrnehmung des Autors aus als über die Hell’s Angels.
Es ist das Vorrecht eines Autobiografen, die Realität aus seiner Sicht zu interpretieren. „Hell’s Angel: Mein Leben“ ist trotz der durchaus interessanten persönlichen Informationen über den Autor zu unglaubwürdig, um es ernst zu nehmen. Ich bin fest überzeugt, dass Ralph »Sonny« Barger alles, was er erzählt, für die reine Wahrheit hält, doch zwischen faktischer und erlebter Wahrheit können eben Welten liegen. Es enttäuschte mich, dass er nachdrücklich darauf pocht, dass die Hell’s Angels nicht mehr als ein unschuldiger Verein von Männern sind, die gemeinsam Motorrad fahren wollen und ihre Gewaltbereitschaft sowie die Schwere ihrer kriminellen Geschäfte verharmlost, obwohl er sich an beiden Punkten aufzugeilen scheint. Er geht überhaupt nicht auf die internationale Situation des MC ein, vermittelt jedoch unmissverständlich, wie stolz er auf die globalen Chapter ist.
Für mich war „Hell’s Angel: Mein Leben“ ein Ausflug in den Kopf eines Mannes, mit dem ich mich weder identifizieren kann noch möchte; jemand, der Selbstjustiz, Sexismus und Gewalt zu seinem Lebenscredo erhob. Bargers Autobiografie ist auf eine voyeuristische Art unterhaltsam, weil Leser_innen eine Weltanschauung kennenlernen, die hoffentlich sehr weit von ihrer eigenen entfernt ist. Sie sollte aber mit Vorsicht und einer ordentlichen Portion Skepsis genossen werden. Es ist nicht alles Gold, was glänzt und Ralph »Sonny« Bargers Erinnerung sind selbstverständlich subjektiv. Die Hell’s Angels waren und sind garantiert keine Chorknaben. Das solltet ihr niemals vergessen, falls ihr euch dafür entscheidet, dieses Buch zu lesen.