Ich habe noch nie einen so punktgenauen, fast schon untertriebenen und Bescheidenheit heuchelnden Klappentext gelesen – der Roman ist genauso wie angekündigt nicht nur ein wilder, sondern einer der schrägsten kühnsten und abgedrehtesten Ritte durch die Berliner Szene quer durch die Jahrzehnte. Die extrem überzeichneten kuriosen Figuren in ihren Subkulturen erinnern mich ein bisschen an William Kotzwinkels Fan Man, der versuchte, das schräge New York der 70er Jahre dadaistisch einzufangen und aufs Papier zu bringen. Die Protagonisten: KanarienQuex der Künstler, Weazle der Dealer und zu intensive Konsument, Neolin 2 der transzendente Guru, Donna Fauna die Tuntendiva mit kommunistischer Agitationsgrundausbildung, Jonathan Rischke der Partyveranstalter und Jus-Student, Lola Mercedes aus der Journallie….
Im abgeranzten Berlin der Nullerjahre ist im ersten Teil der Geschichte so viel dabei: Anarchie, linke Revolution, Okkupation und Besetzung von Abbruch-Industriegelände im Osten durch die junge Generation der Städter, Liebe, Friede, Freude, Eierkuchen, Elektro und Schwulenszene, Drogen (respektive sehr, sehr viel davon), Sex und Goa-Transzendenz. Hier zeichnet der Autor eine treffgenaue Milieuschilderung der ewigen Techno-Drogen-Sexparty voll auf LSD, E, Schwammerl, Poppers und Weed zum runterkommen und führt uns gleichzeitig in die Clique der feierwütigen Berliner Wilden ein, die er sehr liebevoll aber auch mit ihren Macken ziemlich tiefgründig beschreibt.
Kaum beschlich mich das leise Gefühl, dieses ewige Drogen-Sex-Party-Ringelreihenspiel wäre ein bisschen langweilig, zu seicht und monoton für den Plot, machte der Autor eine Kehrtwende mit Zeitsprung und präsentiert den Lesern die ehemalige Clique des Elektro-Hippie-Zentrums Shivas Paradise ein paar Jahre später rund um 2010. Plötzlich geht es um Aufbruch, berufliche Entwicklung von einigen, Gentrifizierung ganzer Stadtviertel, Korruption, Verschwörungsschwurbelei, Meinungsmache durch alte Medien wie Zeitschriften und neue wie Blogs, industrialisierten Veganismus und professionelles Yoga. Anhand einer überfallsartigen Renovierung mit nachträglichen Gentrifizierungsplänen des Quex‘schen Balkons und der tsunamiartigen Kreise, die die sich von der Presse hochgespielte und zum veritablen Finanzskandal auswachsende Petitesse zieht, kommt richtig Schwung in die Story. Jetzt rappelt es auch ohne Sex und Drogen ordentlich im Karton.
In der nächste Wendung an dem an Wendungen nicht armen Plot war ich wirklich platt: Nicht alle Figuren waren in den Nullerjahren nur anarchisch unterwegs und arm wie Kirchenmäuse wie der Rest der Meute. Das Elektro-Hippie-Shivas-Paradise war im Prinzip durchgenehmigt. Nun wird die Story zum spannenden JUS-Wirtschaftskrimi, inklusive starker Big-Business-Verwicklungen: Treuhand, ein korrupter finnischer Immobilienfonds, reguläre Veranstalter, Mietverträge, GEMA-Abgaben, Wegerechte… . Hier liefert uns der Autor eine gar köstliche Analogie: Der Vergleich sitzt, die Enthüllungen über Shivas Paradise sind so grotesk, als hätte Noah beim Bau der Arche mit seiner Heimwerkerkarte bei Hagebau auch noch die drei Prozent Stammkundenrabatt für sein Projekt abgegriffen.
In einem weiteren Teil befinden wir uns ein paar Jährchen später in der brandenburgischen Provinz auf dem Schloss des Freiherrn von Tadelshofen. Ein Großteil der Clique trifft sich wieder total zufällig unter völlig anderen ökonomischen Voraussetzungen und auch teilweise unter komplett neuen Namen. Die Clique hat sich erneut radikal verändert. Diese Zusammenkunft endet in einem mysteriösen infernalen Fiasko mit erneuten wilden und köstlichen Spekulationen.
Leider verpufft das Ende und die Klammer, die der Autor setzen wollte, irgendwie quasi ins Garnichts, esoterisch korrekt ausgedrückt ins Nirwana.
Den Sprachwitz und die innovativen kuriosen Einfälle des Autors möchte ich auch noch sehr lobend hervorheben. Viele Passagen haben mich wundervoll unterhalten und langanhaltend kichernd zurückgelassen
Der Kanarienquex war einige Monate aushäusig gewesen. In Nepal oder Laos oder Vietnam oder Thailand. In jener Ecke Asiens eben, wo Buddhismus, Hinduismus und Tourismus eine bezaubernde Dreieinigkeit bilden.
Mit einem Ruck dreht Fauna sich herum und herrschte das mobile Pogrom, das sich an ihre Fersen geheftet hatte, schrill an: „Seid Ihr von Call me a Mob oder macht Ihr das irgendwie Hobbymäßig für Eure ödipalen Komplexe!“ Lauthals schimpfend machte sie einige Schritte auf die Meute zu, die sich daraufhin zerstreute. Na immerhin. Das funktionierte noch.
Der AIDS Virus […] brach die entscheidende Bresche in das vormals fest in queerer Hand befindliche East Village. Die Schwulen starben, die aufgeklärte Mittelschicht mit ihren quietschenden Bälgern zog in die freigestorbenen Quartiere. In ganz Manhattan wüteten die Breeders anschließend wie eine Horde hablitierter Hunnen, betrieben ihre kulturellen Säuberungen und hetzten die Radikalen der Siebzigerjahre über die Brooklyn Brigde oder weiter nach Queens. Ein grauenvolles Kulturmassaker! […] Nun stand Berlin im Fadenkreuz des Empire of Breed.
Fazit: Ein großer Entwicklungsroman rund um eine Clique, der den Zeitgeist von Berlin quer über die Jahrzehnte perfekt einfängt. Dabei ist er aber im Vergleich zu Virgenie Despentes Roman Vernon Subutex nicht zynisch und frustrierend, sondern witzig, bunt, schrill und anarchisch. Er hat also bei allen Katastrophen, die sich natürlich auch ereignen, von der Anlage her einen weitgehend positiven Sentiment. Bis auf das Ende eine spannende, innovative, und wundervolle Reise, an der ich sehr gerne als Touristin teilgenommen habe. Leseempfehlung – absolut! 4,5 Sterne aufgerundet wegen dem Ende.