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review 2017-06-21 11:58
Eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte
The Crane Wife - Patrick Ness

„The Crane Wife“ von Patrick Ness basiert auf einem japanischen Volksmärchen. Im Nachwort schreibt Ness, dass er die Erzählung bereits seit dem Kindergarten kennt. Ich hingegen musste sie nachschlagen. Die Geschichte existiert in verschiedenen, alternativen Versionen, die grundlegenden Elemente gleichen sich jedoch sehr. Stets geht es um einen verletzten Kranich, der von Menschen gesundgepflegt wird und sich für ihre Hilfsbereitschaft großzügig revanchiert. Ich bin froh, dass mir das Märchen völlig unbekannt war, da ich aufgrund meiner Unwissenheit gänzlich unbelastet an „The Crane Wife“ herangehen konnte.

 

George Duncans Leben lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: unspektakulär. Er ist Inhaber eines kleinen Copyshops, der mäßigen Gewinn abwirft, Vater einer erwachsenen Tochter, die ihn nicht ernstnimmt und geschieden, weil seine Ex-Frau ihn für „nicht Manns genug“ hielt. George ist sich seiner sanftmütigen Durchschnittlichkeit bewusst und hätte niemals erwartet, dass sich daran etwas ändert, doch das Schicksal hat andere Pläne. Eines nachts weckt ihn ein unmenschlicher, herzzerreißender Schrei. Verschlafen taumelt George aus dem Bett und staunt nicht schlecht: in seinem Garten hockt ein großer weißer Kranich. Ein echter Kranich! Ist das ein Traum? Nein, das kann nicht sein, der Kranich wurde angeschossen. Ein Pfeil steckt in seinem Flügel. Kurzentschlossen hilft er dem Vogel. Als das majestätische Tier davonsegelt, ahnt George nicht, dass er soeben den Verlauf seiner Zukunft fundamental veränderte. Am nächsten Tag betritt eine Frau seinen Laden. Sie heißt Kumiko, ist wunderschön und wird all das in Georges Leben bringen, das er bisher vermisste: Liebe, Wunder und Magie.

 

Es ist nahezu unmöglich, „The Crane Wife“ einem Genre zuzuordnen. Patrick Ness tunkt seine Zehen in die Wasser vieler Kategorien, taucht aber niemals unter. Das Buch ist von allem ein bisschen, entzieht sich jedoch einer klaren, eindeutigen Definition. Organisatorisch bereitet mir ein solcher Roman einige Probleme, inhaltlich hingegen liebe ich Grenzgänger dieser Art, weil sie so viele ineinander verschlungene Themen ansprechen. Objektiv betrachtet handelt „The Crane Wife“ von George Duncan, einem durchschnittlichen Mann, dem Wundervolles und Außergewöhnliches widerfährt. Worum es in diesem Buch allerdings tatsächlich geht, steht auf einem ganz anderen Blatt. Es besteht eine hohe Spannung zwischen der oberflächlichen Geschichte und der tiefer liegenden Bedeutung, wodurch sich ein immenser Interpretationsspielraum entfaltet. Ich denke, jeder Leser bzw. jede Leserin liest etwas eigenes, sehr intimes und Persönliches aus Georges Geschichte heraus. Meiner Ansicht nach geht es in „The Crane Wife“ um Liebe und Vergebung, um das Geben und Nehmen in einer Beziehung und um verzehrende Leidenschaft. Inwieweit kann, sollte und darf man eine andere Person besitzen? Wie gut muss man einen Menschen überhaupt kennen, um ihn oder sie lieben zu können? George verliebt sich in Kumiko, obwohl ihm all die Fakten, an denen wir ein „zivilisiertes“ Menschenleben messen, fehlen. Er vertraut seinem Gefühl. Es ist nicht wichtig, woher sie kommt oder wie ihr Leben vor ihrer Begegnung aussah. Wichtig ist nur, was er für sie empfindet und wie er sich in ihrer Gegenwart fühlt. Kumiko verändert Georges Wahrnehmung seiner eigenen Person. Er lernt unheimlich viel über sich selbst; darüber, wer und wie er ist und dass es in seiner eigenen Macht liegt, sein Leben als zauberhaft, überraschend und bedeutsam zu betrachten. Ich denke, im Grunde war er dazu immer in der Lage, er hatte es nur vergessen. Er hatte vergessen, dass eine Geschichte niemals nur eine Geschichte ist, sondern Legion. Egal, was auf der Welt geschieht, es sind immer viele Menschen und dementsprechend auch viele Perspektiven involviert. Dadurch entsteht ein dichtes und weit verzweigtes Netz miteinander verknüpfter, ineinandergreifender Geschichten. Dieses Netz ist ein Wunder, weil es uns als Menschen verbindet. Unsere Leben berühren sich viel häufiger und intensiver, als wir meist annehmen. Ich finde, das ist ein wundervoller Gedanke, den Patrick Ness bis in die elementare Konstruktion von „The Crane Wife“ verfolgt. Auch sein Buch ist eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte. Jede hat ihren eigenen Helden bzw. ihre eigene Heldin, jede fokussiert andere Sorgen, Nöte und Themen. Ich tue mich daher schwer damit, George als Protagonisten des Romans zu bezeichnen. Er mag der Hauptdarsteller seiner Geschichte sein, aber im größeren Rahmen ist er vielmehr ein Knotenpunkt, ein Schmelztiegel der Milliarden Facetten, die wir menschliches Miteinander nennen.

 

Ich kann in dieser Rezension lediglich einen sehr allgemeinen Eindruck von „The Crane Wife“ von Patrick Ness vermitteln. Man muss es selbst gelesen, selbst erlebt haben, um zu verstehen, wie eindringlich dieses Buch mit Bedeutung aufgeladen ist und wieso es so schwierig ist, es angemessen zu beschreiben. Für mich war es genau die leise, zärtliche und ruhige Lektüre, die ich nach „No llores, mi querida“ von André Pilz brauchte. Ich brauchte ein Buch, das vollkommen ohne Härte und Aufregung auskommt, das mich sanft zum Lächeln und Nachdenken bringt. Der starke philosophische Einschlag von „The Crane Wife“ ließ meine Gedanken fliegen, ich hätte mir allerdings eine etwas deutlichere Richtungsangabe gewünscht. Patrick Ness lässt seinen Leser_innen so viel Freiraum, dass ich lange überlegen musste, was er mir möglicherweise sagen möchte. Etwas mehr Führung hätte mir sehr geholfen, die Gedankenflut in meinem Kopf zu sortieren. Nichtsdestotrotz ist „The Crane Wife“ ein wundervolles Buch, das ich gern weiterempfehle und enthält einige stilistische Perlen, die mich wirklich berührten. Oder ist ein Bücherregal als Zustandsbeschreibung der Seele etwa nicht eines der schönsten Gleichnisse, die euch je begegnet sind?

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/06/21/patrick-ness-the-crane-wife
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review 2015-11-11 16:34
Mehr Mut, mehr Selbstvertrauen, mehr Risiko
Time's Edge (The Chronos Files Book 2) - Rysa Walker

Ich hätte die Möglichkeit gehabt, den zweiten Band der Trilogie „The CHRONOS Files“, „Time’s Edge“, wie bereits den Vorgänger „Timebound“ bei Netgalley anzufragen. Ich habe mich dagegen entschieden. Ich finde es nicht richtig, für eine Geschichte nicht zu zahlen, wenn ich schon weiß, dass sie mir gefällt. Mal davon abgesehen, dass die Bände der Trilogie als Kindle-Edition wirklich nicht teuer sind, kann ich der Autorin so meine Wertschätzung ihrer Arbeit ausdrücken und sie unterstützen. Ich denke, dass gerade eine junge Schriftstellerin wie Rysa Walker diese Unterstützung braucht, daher macht es mir nichts aus, Geld für ihre Bücher auszugeben, um sie anschließend zu rezensieren. „Time’s Edge“ habe ich mir direkt nach der Lektüre des ersten Bandes besorgt, denn ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht.

 

Die 1893er Weltausstellung in Chicago war nur der Anfang. Die Gegenwart schwebt noch immer in Gefahr. Saul plant, die Geschichte zu verändern und nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Unzählige Leben könnten ausgelöscht werden. Kate muss die verbliebenen CHRONOS-Schlüssel in der Vergangenheit ausfindig machen, bevor Saul sie für seine Zwecke einsetzen kann. Als wäre ihre Mission nicht bereits aufreibend genug, ist auch Kates Liebesleben ein einziges Chaos. Während sie auf der einen Seite versucht, ihre Beziehung mit Trey zu retten, muss sie auf der anderen Seite mit Kiernan zusammenarbeiten, der ihre Gefühle heftig durcheinanderbringt. Doch kann sie Kiernan überhaupt vertrauen?
Hin und her gerissen zwischen den Zeiten hat Kate nur einen einzigen Versuch, die Welt und ihr eigenes Leben zu retten.

 

Ich fand „Time’s Edge“ mitreißender und intimer als den Vorgänger „Timebound“ . Ich war emotional tiefer in der Geschichte und näher an den Figuren, weil Rysa Walker noch mehr Herzblut in diesen zweiten Band steckte. Es wirkte, als fühlte sie sich sicherer und selbstbewusster beim Schreiben, besonders in Bezug auf das Zeitreise-Thema. Statt sich wie in „Timebound“ auf ein einziges Ziel in der Vergangenheit zu konzentrieren, bietet sie dieses Mal verschiedene Orte zu verschiedenen Zeiten an und erarbeitet dadurch ein komplexeres Geflecht von Zeitlinien, die sich teilweise überschneiden. Es gefiel mir sehr gut, dass sie sich erfolgreich um mehr Atmosphäre bemühte und die unterschiedlichen Schauplätze wesentlich greifbarer beschrieb. Zusätzlich integrierte sie genau das, was mir nachträglich gesehen im ersten Band fehlte: ein Stück persönliche Geschichte. Bisher gestattete Walker Kate und ihrer Großmutter Katherine nur wenig Interaktion mit den Menschen der Zeiten, die sie besuchten und erklärte diese Zurückhaltung mit den Vorschriften von CHRONOS. Auf sich selbst gestellt bewegt sich Kate nun freier. Eine Wendung der Handlung erlaubt ihr den direkten Kontakt mit echten, persönlichen Schicksalen, der nicht nur für sie sehr berührend ist, sondern es auch für mich war. Ich konnte völlig nachvollziehen, wie schwer es ihr in dieser Situation fiel, sich nicht einzumischen und die Ereignisse nicht zu verändern, obwohl sie ihr so nahegingen. Dieser Moment der Identifikation machte sie für mich zu einer besonderen Protagonistin, was ich von Rysa Walker allerdings auch erwartet hatte. Darüber hinaus gebe ich zu, dass mich Kates persönliches Liebesdreieck für sich eingenommen hat. Ja, ich weiß, normalerweise nerven diese Dreiecksgeschichten, aber ich versichere euch, dieses ist wirklich originell, interessant und pikant. Beide Beziehungen sind schwierig und kompliziert – nicht nur, weil sie de facto in unterschiedlichen Zeiten stattfinden. Meiner Ansicht nach ist es für Kate schier unmöglich, sich zu entscheiden und das, obwohl ich eigentlich von Anfang an ein Fan von Trey war. Kiernan ist einfach so höllisch charmant (und gutaussehend *hüstel*), dass meine Überzeugung im Verlauf von „Time’s Edge“ ins Wanken geriet. Letztendlich bleibe ich aber doch im Team Trey, denn es geht mir nicht anders als Kate selbst: ich misstraue Kiernan. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er etwas Entscheidendes verheimlicht. Möglicherweise sogar aus purem Egoismus, weil er sich ein Leben mit Kate wünscht. Ich kann noch gar nicht absehen, welche Entwicklung Rysa Walker für ihn anstrebt.
Die Handlung an sich ist in ihrem groben Rahmen natürlich ein wenig vorhersehbar; ich gehe davon aus, dass Kate im Finale über Saul triumphiert. Ich hatte nicht den Eindruck, dass der zweite Band den übergeordneten Plot wirklich weit nach vorn trieb, doch er gestaltete ihn definitiv verschachtelter und dichter. Diese Details sind es, die mich davon überzeugen, das Finale „Time’s Divide“ zu lesen. Ich weiß, dass Kate letztendlich siegen wird – aber ich habe keine Vorstellung davon, wie. Ich glaube, dass Rysa Walker noch die eine oder andere Überraschung aus dem Ärmel schütteln wird und freue mich darauf, herauszufinden, welche das sind.

 

Ich beglückwünsche mich selbst dazu, „The CHRONOS Files“ via Netgalley entdeckt zu haben. Ich sagte es bereits und ich muss es noch einmal betonen: Rysa Walker ist eine talentierte Autorin mit unheimlich viel Potential. Einen Teil davon hat sie in „Time’s Edge“ gezeigt. Ich hatte den Eindruck, dass Walker Mut und Selbstvertrauen aus dem Erfolg ihres ersten Bandes schöpfte, mehr Risiken einging und sich an ein kompliziertes Netz verschiedener Zeitstränge wagte. Diese spezielle Komplexität zeichnet die Trilogie allerdings als Lektüre aus, die meiner Meinung nach ausschließlich für Zeitreise-Fans geeignet ist. Die Zeitlinien und ihre Verbindungen intellektuell und logisch auseinander zu halten, ist sowohl für die Figuren als auch für die Leser_innen eine Herausforderung, an der man prinzipiell Spaß haben muss. Ich würde davon abraten, mit „The CHRONOS Files“ in die Thematik einzusteigen, doch wenn ihr bereits wisst, dass euch Sprünge durch die Geschichte begeistern, könnt ihr Kate ohne Weiteres auf ihren Reisen begleiten.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/11/11/rysa-walker-times-edge
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