Stefan Slupetzkys neuer Krimi aus der Lemming-Reihe weist eine erfreuliche und gleichzeitig unübliche Tendenz auf. Nutzen sich bei den meisten Autoren die Figuren und das Setting mit zunehmendem Fortschritt der Reihe normalerweise etwas ab, so folgt hier nach einigen recht guten Kriminalromanen ein absoluter Paukenschlag, eine brillante Geschichte, die neben den gewohnten Stärken in der Einbindung von historischen Hintergründen auch noch eine satirische politische Tendenz erhält und zudem topaktuelle Probleme des Zeitgeschehens in den Plot einarbeitet.
Der Lemming, vulgo der ehemalige Polizist und jetzige Nachtwächter im Schönbrunner Zoo, Leopold Wallisch, muss mitansehen, wie der Freund seines Sohnes unvermittelt aus der Straßenbahn springt und sich von einer Brücke vor die U-Bahn wirft. Der Lemming ist erschüttert, denn er hat noch versucht, Mario zu retten, leider ist er ihm aus der Hand geglitten. Übrig bleiben nur die Jacke und das Handy des Buben, mit dem letzten Posting aus einem Sozialen Netzwerk, das kurz zuvor eingegangen, und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Auslöser für diese Verzweiflungstat gewesen ist.
Plötzlich sieht sich der Lemming, der die letzte Person gewesen ist, die mit dem Opfer, dem Sohn des linkslinken Gutmenschen und Filmemachers Kurt Rampersberg, gesprochen hat, auch noch einem Shitstorm in den Zeitungen und Online ausgesetzt. Für die Journaille ist klar: Dieser Mann ist ein Kinderbelästiger, vielleicht auch noch viel Schlimmeres und deshalb Schuld am Selbstmord des Kindes. Auch der Polizist und Freund des Lemming, Polivka, der ihn nicht gleich einsperrt und zum elektrischen Stuhl expediert, soll mit ihm unter einer Decke stecken und wird gleich prophylaktisch durch den Druck der Medien vom Dienst suspendiert. Auf Grund der massiven medialen Schmutzkübelkampagne, die über den Lemming und Polivka wie aus heiterem Himmel hereinbricht, machen sich die beiden daran, ihren Ruf wiederherzustellen, das Verbrechen aufzuklären und das Unrecht aufzudecken, das dem elfjährigen Mario jeden Lebenswillen entzogen hat.
Mehrere Probleme würzen hier das Potpourri an aktuellen Bezügen: Die Hatz eines rechten Mobs gegen linkslinke Gutmenschen in der Figur des Filmemachers und Vaters Rampersberg, Cyberbullying von kleinen Kindern in sozialen Netzwerken, dem Mario Rampersberg ausgesetzt ist, begleitet von einer sensationsgeilen, zumindest verbal gewaltbereiten Öffentlichkeit, die sich recht schnell in jedwede Richtung manipulieren lässt.
So nebenbei und en passant analysiert Slupetzky zusätzlich sehr pöhse und unaufgeregt die politische Situation in Österreich, wie den Regierungsstil von Sebastian Kurz – ohne ihn namentlich zu nennen – den Niedergang der Grünen im Jahr 2017, verursacht durch Eva Glawischnig – wieder ohne Namensnennung – und die Krise der SPÖ gleich mit.
Heute geht es wieder einmal vorwiegend darum, der Masse nach dem Mund zu reden, unabhängig davon, welchen Cliquen und gesellschaftlichen Schichten man tatsächlich dient. Besonders trifft das auf den jungen Mann zu, der seit gut eineinhalb Jahren die Regierungszügel in der Hand hält. Wie ein Phönix ist er aus der Asche seiner ehemals großen, später angeschlagenen bürgerlich-katholischen Partei gestiegen, hat mithilfe eines guten Schneiders und eines noch besseren Friseurs die letzte Wahl gewonnen und sogleich bedenkenlos mit dem nicht ganz so schnittigen Vertreter der Rechtsnationalen koaliert. Wobei der junge Mann sich eher um die wirtschaftliche Seite des Regierens kümmert (Subventionen für die Erdölindustrie statt für den Klimaschutz, mehr Steuerprivilegien für Konzerne, Anhebung der Wohnungsmieten, Kürzung der Sozialhilfe, Verlängerung der Arbeitszeiten), während er die weit verfänglichere Innenpolitik seinem Verbündeten überlässt.
Herrlich, wie der Autor politische und gesellschaftliche Kritik staubtrocken in seinem Kriminalplot verpackt serviert.
Zudem legt er auch in einem winzigen Absatz, ganz simpel erklärt, punktgenau den Finger in die Wunde eines der juristischen Hauptprobleme von Cybermobbing, dass die meist anwendbare Ehrenbeleidigung ein Privatanklagedelikt ist. Für Offizialdelikte wie gefährliche Drohung ist die Drohung meist nicht massiv genug und für Stalking muss es mehrere Wiederholungen vom selben Nutzernamen geben. Deshalb kann die Polizei auch selten von sich aus aktiv werden, bevor irgendwelche Katastrophen passiert sind.
In diesem Umfeld ermitteln die beiden Digitalanalphabeten, der Lemming und sein Freund Polivka, die Hintergründe der Mobbingkampagne, teilweise mit viel Gegenwind und selbst auf der Flucht vor der geifernden, gesteuerten Meute, die auch ihnen an den Kragen will. Im Endeffekt erklären sich abschließend auch die ausführlichen politischen Facetten des Romans, da die beiden mitten in einem spannenden Dickicht aus politischer Hetze und Dirty Campaigning landen.
Die Auflösung des Falles ist genial, sowohl von der Motivlage her, als auch in der Figur des Überraschungstäters. Da das Mobbing aus oben genannten Gründen bezüglich der gesetzlichen Lage nicht zu einer Verhaftung und somit zu einer gerechten Strafe führen kann, hat sich Autor Slupetzky eine besonders perfide Strafe für seinen fiktiven Täter ausgedacht, der das Gerechtigkeits- beziehungsweise Rachebedürfnis der Leserschaft restlos befriedigt.
Fazit: Ein großartiger Krimi mit einem spannenden topaktuellen Plot, lustigem Täterraten, einer grandiosen Auflösung des Falles und einem kräftigen Anteil an Gesellschafts-, Politik- und Medienkritik. Fertig ist ein literarisches Eintopfgericht, dessen Genuss ich Euch wärmstens empfehle.