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review 2015-11-20 10:23
Ein Traum bittersüßer, behutsamer Melancholie
Golem und Dschinn - Eine Liebe nicht von dieser Welt: Roman - Annette Grube,Helene Wecker

„Golem und Dschinn“ von Helene Wecker habe ich als Rezensionsexemplar über das Bloggerportal von Random House angefragt. Diese Entscheidung war das Blogger-Äquivalent eines Spontankaufs, denn das Buch stand nie auf meiner Wunschliste. Der Klappentext hat mich einfach neugierig gemacht. Ich suche immer nach neuen Ideen in der Urban Fantasy und bisher habe ich noch kein Buch dieses Genres gelesen, in dem ein Golem und/oder ein Dschinn die Hauptrolle übernehmen. Ein wenig skeptisch war ich trotz dessen, da der Untertitel „Eine Liebe nicht von dieser Welt“ nicht gerade meinem Beuteschema entspricht. Doch was wäre das Lese-Leben ohne Risiken?

 

Chavas Leben beginnt mitten auf dem Ozean, auf der Überfahrt von Polen nach New York, als ihr Meister sie erweckt. Chava ist kein Mensch – sie ist ein Golem, geschaffen von einem unmoralischen Rabbi, um zu dienen und zu gehorchen. Doch ihr Meister verstirbt noch bevor sie New York erreichen. Ihrem Daseinszweck beraubt, spürt und hört sie die Wünsche, Sorgen und Sehnsüchte aller Menschen um sich herum. Allein in einer fremden Stadt muss sie lernen, sich zurecht zu finden, ohne aufzufallen. Nie hätte sie erwartet, eine verwandte Seele zu treffen; jemanden, der sich ebenso verloren, einsam und anders fühlt wie sie. Ahmad ist ein Dschinn, lebendiges Feuer. Vor Jahrhunderten wurden ihm von einem mächtigen Zauberer seine Kräfte genommen. Eingesperrt in einer Kupferflasche trägt ihn das Schicksal in das syrische Viertel in New York.
Zwischen Millionen von Menschen versuchen Chava und Ahmad, gegen einen gefährlichen Feind zu bestehen und Liebe, Freundschaft und ihren Platz in einer Welt zu finden, in die sie eigentlich nicht gehören.

 

„Golem und Dschinn“ ist Juwel; ein unentdeckter Diamant in einem Genre, das von bedeutungslosen, austauschbaren Geschichten regelrecht überflutet wird. Literatur wie diese ist selten und deswegen umso kostbarer. Meine Skepsis war überflüssig, denn das Buch ist weder kitschig, noch übertrieben oder billig. Helene Wecker verfolgt ihren ganz eigenen Stil und beweist, wie viel Originalität die Kategorie der Urban Fantasy für diejenigen zulässt, die sich trauen, abseits der Massenware zu schreiben. „Golem und Dschinn“ ist sanft, leise und zärtlich; es ist ein Traum bittersüßer, behutsamer Melancholie. Die Autorin pflegt einen poetischen, blumigen Schreibstil, mit dem sie ihre Leser_innen im Handumdrehen in eine Welt voller kleinerer und größerer Schicksale entführt, deren Verbundenheit sich erst nach und nach offenbart. Ihre Liebe zu Details, zu den zahllosen winzigen Facetten der Leben ihrer Figuren ist herzergreifend. Sie vereint Nähe und Distanz, indem sie mit den Blickwinkeln spielt, ohne die Erzählperspektive zu ändern. Durch Chavas und Ahmads Augen erlaubt sie sich und den Leser_innen, die Menschheit von verschiedenen Seiten zu betrachten. Sie sehen Schönheit, Reinheit, Absurdität und Leid im alltäglichen Wahnsinn – Kleinigkeiten, die wir selbst nicht wahrnehmen. Ich fand es faszinierend, sie bei dem Versuch zu beobachten, sich zu integrieren, denn eben diese Kleinigkeiten bereiten ihnen die größten Schwierigkeiten. Dabei gehen sie ganz unterschiedlich damit um. Während Chava sich versteckt und furchtbare Angst davor hat, dass ihre wahre Natur offenbart wird, liebt Ahmad das Risiko und flüchtet sich immer wieder in spontane, waghalsige Unternehmungen. Sie sind wahrhaft gegensätzlich, ergänzen sich aber genau deswegen perfekt. Die Beziehung dieser beiden unheimlich realistischen Persönlichkeiten ist rein, unschuldig und ehrlich, denn nur mit einander können sie tatsächlich sie selbst sein. Sie geben sich gegenseitig Halt. Ich bin Helene Wecker so dankbar, dass sie der Versuchung widerstand, Chava und Ahmad in eine klischeebeladene Liebesaffäre zu zwingen und das Wesen ihrer komplizierten Verbindung stattdessen differenziert herausarbeitete. Den deutschen Untertitel des Buches finde ich daher etwas irreführend, denn Liebe spielt in Weckers Geschichte nur sehr subtil eine Rolle. Alle Lebewesen suchen nach Liebe, ob Mensch oder nicht. Triefende, schwülstige Romantik hat damit nicht das Geringste zu tun. Ich denke, genau diese Einstellung hat „Golem und Dschinn“ für mich zu einer außergewöhnlichen Lektüre gemacht. Ihre Suche nach Liebe ist für die Figuren die wahre Herausforderung in ihrem Leben, der Grund, warum sie sich Tag für Tag abrackern und jeden Morgen aufstehen, selbst wenn ihr alltäglicher Kampf aussichtslos erscheint. Ich konnte mich hervorragend mit ihnen identifizieren, weil ich mich in den Hindernissen ihres Daseins wiederfinden konnte. Käfige sind vielfältig und nicht alle kann man sehen. Die vielen kleinen Geschichten geben dem Buch seine besondere Atmosphäre – nicht traurig, aber auf gewisse Weise schwermütig, wie ein Seufzer, der aus tiefstem Herzen kommt.

 

Ich fand „Golem und Dschinn“ überraschend und berührend. Es ist eine wundervolle Geschichte vom Leben, von der Liebe, von tiefer Freundschaft und von den Konsequenzen des freien Willens. Letzterer bringt uns manchmal an gute und manchmal an schlechte Orte – die Frage ist, was man daraus macht. Chava und Ahmad beweisen, dass jede_r ein Recht auf ein eigenes Schicksal hat, auf eigene Entscheidungen und dass es nicht ausschließlich unsere Herkunft oder Veranlagung ist, die uns definiert. Wir haben unser Leben in der Hand und können jeder Zeit über uns selbst hinauswachsen.
Ich möchte euch „Golem und Dschinn“ nachdrücklich und vehement empfehlen. Das Buch ist seit langem das Beste, was ich aus der erwachsenen Urban Fantasy gelesen habe: originell, kreativ und bezaubernd. Es ist ganz bestimmt keine Durchschnittslektüre, sondern herzerwärmend und einzigartig. Es ist eine Geschichte, die sich wie Balsam um die Seele legt.

 

Vielen Dank an das Bloggerportal von Random House für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars!

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/11/20/helene-wecker-golem-und-dschinn
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review 2015-07-08 09:42
Bisola - eine Welt der Extreme
Grauwacht: Roman - Robert Corvus

„Grauwacht“ von Robert Corvus war ein Spontankauf. Mein erster seit langer, langer Zeit. Ich weiß nicht mehr, wann ich davor das letzte Mal in einer Buchhandlung so begeistert von einem Cover und einem Klappentext war, dass ich das dazugehörige Buch sofort mitnehmen musste, obwohl es nicht auf meiner Wunschliste stand. Ich wusste auch nicht, dass mir dieses spezielle Gefühl der Aufregung gefehlt hat. Als Buchbloggerin bin ich sehr kontrolliert, was den Kauf neuer Bücher angeht, selbst wenn das nicht immer so aussieht. Ich kaufe in der Regel nichts abseits meiner Wunschliste. Umso mehr freute ich mich darauf, in „Grauwacht“ zu versinken und endlich mal wieder einen spontanen Kurzurlaub in eine Welt zu unternehmen, die so weit weg von der Erde ist, wie es nur geht.

 

Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht, glühende Hitze und brennende Kälte. Bisola ist eine Welt der Extreme, in der eine einzige Nacht ein gesamtes Menschenleben andauert. Um das Überleben aller ihrer BewohnerInnen zu ermöglichen, wurde vor langer Zeit ein Vertrag zwischen Menschen und Sasseks geschlossen. Den wechselwarmen Sasseks gehört der Tag, den anpassungsfähigeren Menschen die Nacht. Beide Völker wandern mit dem Stand der Sonne – wenn die Dämmerung hereinbricht, ist es die Aufgabe der Grauwacht, sicherzustellen, dass der uralte Pakt geachtet wird. Doch Bisola verändert sich. Die Monde wechseln ihre Farbe und das Licht schwindet nicht mehr. Kann die Grauwacht den Frieden zwischen den Völkern bewahren und gleichzeitig herausfinden, was die Veränderungen zu bedeuten haben?

 

„Grauwacht“ zu lesen war, als würde ich ein Theaterstück sehen, das in einer Sprache aufgeführt wird, die ich nicht spreche. Ich erlebe die Darsteller auf der Bühne, kann anhand ihres Spiels erschließen, welche Emotionen sie empfinden und bekomme einen groben, rohen Eindruck der Handlung. Doch die Feinheiten bleiben mir verborgen, weshalb ich keine Chance habe, den wahren Sinn des Stücks zu begreifen. Meine Reise nach Bisola fühlte sich genauso an. Bisola – diese faszinierende, fremdartige, beängstigende Welt. Dieser Planet, dessen Oberfläche gleichzeitig extreme Hitze und bittere Kälte verkraftet und daher einem ständigen Wandel der Umgebung unterworfen ist. Gefährliche Eisstürme und Beben verändern die nächtliche Landschaft der Menschen, während die Sonne die Ozeane so stark erhitzt, dass sie zu kochen beginnen. Es ist eine harte Welt, in der ich keinesfalls leben möchte, weil leben dort mit überleben gleichzusetzen ist. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, eine Bewohnerin Bisolas zu sein, besonders, da ich als Mensch an die Nacht gefesselt wäre. Diese Welt ist so anders, dass es mir sehr sehr schwer viel, einen Zugang zu ihr zu finden und sie zu verstehen. Ich glaube nicht, dass es mir vollständig gelungen ist. Ich liebe die Idee hinter Robert Corvus‘ Roman, doch seine Umsetzung ist meines Erachtens nach äußerst verwirrend. Er verlangt seinen LeserInnen unheimlich viel ab, denn neben der Komplexität Bisolas müssen sie auch noch die vielschichtige Handlung verdauen, die sehr dicht mit den Besonderheiten des Planeten verknüpft ist. Ich denke, es verhält sich so: begreift man Bisola nicht, wird auch die Handlung rätselhaft und irritierend bleiben. Die Wanderungen von Menschen und Sasseks mit dem Stand der Sonne mögen von außen recht banal wirken, doch für mich wurden sie beim Lesen unglaublich kompliziert, weil ich einfach nicht verstand, wie das System dahinter funktioniert, das der Vertrag der Völker festlegt. Das Gleiche gilt leider für die Zeit- sowie Entfernungsrechnung, die Robert Corvus für seinen Roman völlig neu erfand. Alles bezieht sich auf die Umstände in Bisola, was zwar durchaus realistisch ist, mir daher allerdings nicht den geringsten Referenzpunkt bot. Ich weiß nicht, wie lang ein Mezzalauf ist. Ich weiß auch nicht, wie weit ein Click ist, obwohl beides immer wieder erwähnt wird. Corvus schreibt für meinen Geschmack nicht explizit genug; er erklärt wenig und wenn, dann eher beiläufig, was in all den Wendungen der Handlung sehr schnell unterging. Außerdem empfand ich ihn als sprunghaft und unruhig, als würde er mit jedem neuen Einfall das aktuelle Problem einfach vom Tisch kehren, ohne es richtig aufzulösen. Ähnlich verhält es sich mit den Figuren in „Grauwacht“, die nicht nur sehr zahlreich sind (ich habe fast 40 namentlich genannte Personen gezählt), sondern mir auch fremd blieben. Zwar erhielten nicht alle Charaktere eine eigene Perspektive, doch auch mit denjenigen, aus deren Sicht ich die Ereignisse erleben durfte, konnte ich keine solide Verbindung aufbauen. Überhaupt gab nur eine einzige Figur, die ich wirklich mochte und mit der ich mich zumindest ein bisschen identifizieren konnte: den Sassek Ssarronn.

 

Ich würde „Grauwacht“ nicht unbedingt als Fehlkauf oder Totalausfall bezeichnen, doch es hielt definitiv nicht das, was ich mir davon versprochen hatte. Ich empfand es als verworren und unübersichtlich; Robert Corvus fehlt meiner Ansicht nach das Talent, um seine komplexen, spannenden Ideen seinen LeserInnen leicht und elegant zu vermitteln. Ich habe mich überfordert gefühlt, als wäre ich nicht clever genug, um seine Konstruktion zu durchschauen. Nicht gerade eine positive Empfindung.
Ich möchte „Grauwacht“ nicht empfehlen, weil ich es dafür erstens nicht gut genug fand und zweitens auch zu wenig Erfahrung mit dem reinen Science Fiction – Genre habe, um hier irgendwelche Vergleiche anzustellen. Solltet ihr euch trotz dessen dazu entscheiden, es zu lesen, fände ich es toll, wenn ihr mir kurz eure Eindrücke schildert. Vielleicht lag es nicht nur an mir, dass ich mich in dieser Geschichte so unwohl gefühlt habe.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/07/08/robert-corvus-grauwacht
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