Recherchiere ich Autor_innen für meine Rezensionen, freue ich mich immer, wenn ich in ihren Biografien und Interviews etwas finde, das mich mit ihnen verbindet. Bei Antonia Michaelis ist der Kitt zwischen uns allerdings so unwahrscheinlich, dass ich mir ungläubig die Augen rieb. In einem Interview wurde sie gefragt, ob sie sich noch an das erste Buch erinnere, das sie je gelesen habe. Sie antwortete, das wäre mit 5 Jahren ein Buch über drei kitschige kleine Katzen gewesen, die mit einem Wollknäuel spielten. Ich kenne das Buch! Es war auch eins meiner Kinderbücher! Zugegeben, ich weiß nicht, ob wir dasselbe Buch meinen, aber mir gefällt die Vorstellung. Glücklicherweise ist „Drei Kätzchen“ kein Hinweis auf die Qualität von Michaelis‘ eigenen Büchern. Sie überzeugte mich mit „Die Worte der Weißen Königin“ – nun wollte ich sie mit „Der Märchenerzähler“ erneut auf die Probe stellen.
Auf dem Schulhof kursieren über den polnischen Kurzwarenhändler die wildesten Gerüchte. Er schwänzt die Schule. Er lebt in einem Plattenbau. Er verkauft Drogen. Für Anna war ihr schweigsamer Mitschüler kaum mehr als ein verschwommener Schemen am Rande ihrer Wahrnehmung. Bis zu dem Tag, an dem sie die Puppe findet. Plötzlich erhält der polnische Kurzwarenhändler einen Namen. Er heißt Abel Tannatek und verfügt über eine magische Stimme. Er ist ein Märchenerzähler, der sich rührend um seine kleine Schwester Micha kümmert, für die er wundervolle Geschichten erfindet. Schon bald ist Anna von ihm verzaubert und entdeckt Gefühle, die sie niemals für möglich gehalten hätte. Doch sie spürt auch, dass irgendetwas nicht stimmt. Das Märchen nimmt eine beängstigende Wendung. Welche finsteren Geheimnisse verbirgt Abel? Tiefer und tiefer versinkt Anna in einem undurchsichtigen Strudel von Fantasie und Realität und erkennt, dass das Märchen vielleicht kein Happy End haben kann…
Wie soll ich euch nur erklären, was ich für „Der Märchenerzähler“ empfinde? Als ich diese Rezension begann, dachte ich, sie würde ein Klacks. Einleitung und Inhaltsangabe schrieben sich flüssig und ich war optimistisch, auch den Hauptteil zügig fertig zu bekommen. Jetzt sitze ich vor der gefühlt hundertsten Version und möchte am liebsten laut schreien. Es ist wie verhext. Meine Gedanken stecken fest. Ich komme nicht voran. Dieses Buch macht mich fertig. Meine Emotionen sind so widersprüchlich, dass ich nicht weiß, wie ich sie in einen kohärenten Text verwandeln soll. Ich schreibe jetzt einfach drauf los und schaue, was dabei herauskommt. Also verzeiht, wenn diese Rezension etwas anders ist als meine üblichen Ergüsse.
Einerseits sehe ich in Antonia Michaelis eine der sozialkritischsten Autor_innen, die Deutschland zu bieten hat. Ich schätze ihren Mut, auf das Leid hinter verschlossenen Türen zu blicken. Ihr Talent, ernste, traurige und unangenehme Tabuthemen in poetische Geschichten mit einer traumähnlichen Atmosphäre zu kleiden, ist beeindruckend und ihr Schreibstil ist irrsinnig schön. Ich erkenne, wie besonders „Der Märchenerzähler“ ist und würde lügen, würde ich behaupten, die melancholische, tragische Geschichte von Abel und Anna habe mich nicht berührt. Die begleitende Binnenerzählung des Märchens, das Abel für seine kleine Schwester Micha erfindet, ist bezaubernd und erzeugt auf einzigartige Art und Weise Spannung, weil sie Realität und Fantasie verschwimmen lässt. Ich wollte herausfinden, welche Ereignisse der Wirklichkeit Abel darin spiegelt und bangte um ihn und die entzückende Micha, die er mit bedingungsloser Aufopferung liebt. Ich fieberte mit, das möchte ich nicht leugnen.
Andererseits empfand ich jedoch nicht so intensiv, wie ich es mir gewünscht hätte. Meine Tränenkanäle blieben fest verschlossen, obwohl „Der Märchenerzähler“ prädestiniert dafür ist, wahre Sturzbäche auszulösen. Ich konnte das Buch nicht richtig spüren. Ich kam nicht an meine Emotionen heran, weil die surreale, ätherische Atmosphäre sie bedeckte und dämpfte. Ich fühlte mich in Watte gepackt. Für mich ist es zu rücksichtsvoll, zu sanftmütig. Oftmals erreicht mich die harte Realität besser als jede lyrische Metapher. Ich verstehe, dass kalte Fakten nicht in diese Geschichte passen, weil das Märchen für Abel, Micha und Anna eine Realitätsflucht darstellt, durch die sie die schreckliche, mitleidlose Welt vergessen können. Aber für mich gestaltete sich meine Leseerfahrung dadurch als zu entrückt. Deshalb erlebte ich während der gesamten Lektüre eine unüberwindbare Distanz, die ich gern abgeschüttelt hätte.
Und dann war da noch die Vergewaltigung. Ich möchte nicht zu viel verraten, doch ich finde es wichtig, diesen Punkt anzusprechen. Ich begreife nicht, was sich Antonia Michaelis dabei dachte, wieso sie glaubte, diese Szene sei notwendig. Meiner Ansicht nach war sie es nicht, weil sie deren Effekt auch anders hätte erreichen können. Der Autor Robert Jackson Bennett schrieb einmal in einem Essay, dass Vergewaltigungsszenen nur dann eingesetzt werden sollten, wenn sie absolut unvermeidlich sind. Das ist sehr, sehr selten der Fall. Eine Vergewaltigung als inhaltliches Stilmittel zu missbrauchen, ist inakzeptabel. In „Der Märchenerzähler“ konnte ich nicht erkennen, inwiefern diese Szene die Geschichte entscheidend beeinflusste. Ich mutmaße, dass Michaelis eine Aussage über die Beziehung der beteiligten Figuren treffen wollte, was meiner Meinung nach keine überzeugende Rechtfertigung ist. Zusätzlich schürt der nachfolgende Umgang des Opfers mit diesem Erlebnis Vergewaltigungsmythen. Mir stieß diese Szene daher sehr sauer auf. Sie beschäftigte mich so, dass ich das Buch kaum noch von ihr trennen und für sich selbst betrachten kann. Mag sein, dass ich überempfindlich bin. Vermutlich wollte Antonia Michaelis vermitteln, dass Liebe eigenen Regeln folgt. Eine Vergewaltigung sollte jedoch niemals im Rahmen dieser Regeln liegen.
Meine Güte, bin ich erleichtert. Endlich habe ich diese blöde Rezension fertig und einen halbwegs brauchbaren Text zustande gebracht. Ich erlebe immer mal wieder Buchbesprechungen, die sich schwerfällig schreiben, besonders dann, wenn meine Notizen nutzloser Murks sind. Doch ich glaube, eine Situation, in der meine Gedanken zu einem Buch so fest ineinander verdreht sind, dass ich ernsthafte Schwierigkeiten habe, sie zu entwirren und auszuformulieren, habe ich noch nie erlebt. Der Knoten ist auch immer noch nicht geplatzt. „Der Märchenerzähler“ wird für mich wohl auf ewig mit widersprüchlichen Gefühlen und einem generellen Eindruck von mentalem Chaos verbunden sein. Ich hätte niemals angenommen, dass dieses unschuldig daherkommende Buch solche Komplikationen auslösen könnte. Ich hoffe, dass diese Rezension trotzdem hilfreich für euch war, denn eine faire Empfehlung erscheint mir unmöglich. Wie „Der Märchenerzähler“ auf mich wirkte, ist eine Ausnahmeerscheinung, die weder Rückschluss darauf gibt, wie ich eine Lektüre normalerweise erfahre, noch, wie sie euch beeinflussen würde. Es ist ein Sonderfall. Deshalb kann und möchte ich euch nur eines raten: falls ihr sensibel auf das Thema Vergewaltigung reagiert, solltet ihr Abstand von „Der Märchenerzähler“ nehmen. Das ist der einzige Kritikpunkt, den ich faktisch (statt emotional) begründen kann. Diese Szene war unnötig und enttäuschte mich sehr. Von einer Autorin, die mutig gesellschaftliche Missstände anprangert, habe ich definitiv mehr erwartet.