Story:
Seitdem der siebzehnjährige Thomas mit seiner Mutter vom Dorf in die Stadt gezogen ist, ist sein Leben die Hölle. Noch immer macht ihm der Unfalltod seines Vaters schwer zu schaffen, für den er insgeheim seine Mutter verantwortlich macht, und in der Schule ist er der Außenseiter schlechthin, der von seinen Mitschüler drangsaliert und fertiggemacht wird. Als er zufällig erfährt, dass ein wohlhabender Mann mit Ehefrau für mehrere Wochen wegen Erbschaftsangelegenheiten in den Staaten ist, bricht er in die leerstehende Villa ein und erschafft sich dort eine Art Refugium. Anstatt zur Schule zu gehen, hält sich Thomas in dem Haus auf, kümmert sich um den Garten und schaut Filme.
Eines Tages lernt er in der Nachbarschaft der Villa Jakob kennen, den eine üble Narbe im Gesicht zeichnet, die ihm ein Hund als Kind beigebracht hat. Fortan vergiftet er jeden Hund, der ihm über den Weg läuft, um mit seinem Kindheitstrauma fertig zu werden. In der Villa kommen sich die beiden ungleichen Jungen näher und lernen erstmals wieder Vertrauen zu fassen …
Eigene Meinung:
Mit seinem dritten Roman legt Paul Senftenberg ein sehr berührendes und tiefgehendes Buch vor, das von der Atmosphäre her nur wenig mit „Eine ganz andere Liebe“ gemein hat. Da der Roman in der Reihe „Junge Liebe“ des Himmelsstürmer Verlag erschienen ist, kann man sich denken, dass jugendliche Charaktere und deren Probleme im Zentrum der Geschichte stehen.
Inhaltlich ist „Narben“ dramatischere und damit auch intensive Kost, die tiefer geht und dem Leser keine sommerlich leichte Liebe präsentiert, wie es bei „Eine ganz andere Liebe“ der Fall war. Sicherlich gibt es Überschneidungen, so ist beispielsweise das Thema Mobbing in beiden Büchern wichtig für den Handlungsverlauf und sorgt dafür, dass jeweils einer der Protagonisten eine extreme Entscheidung trifft, doch der gesamte Handlungsaufbau und die Atmosphäre der Geschichte ist anders. Thomas und Jakob sind beide gezeichnet, kämpfen mit ihren eigenen Probleme und Sorgen, auch wenn diese vollkommen unterschiedlicher Natur sind, und bieten damit einen gänzlich anderen Rahmen. Sicherlich ist auch in „Narben“ die Liebesgeschichte unverkitscht und realistisch, doch eine leichte Sommerliebe wird man hier nicht finden. Stattdessen geht es in diesem ernster zur Sache und hin und wieder beschleicht den Leser fast schon ein beklemmendes Gefühl. Seien es die Hänseleien gegen Thomas oder Jakobs Ängste vor Hunden – Paul Senftenberg lässt seine Charaktere leiden und gibt ihnen lediglich einen Ort, wo sie zur Ruhe kommen können – die Villa.
Dennoch ist das Buch nicht vollkommen schlüssig – viele Fragen bleiben offen. Diese sind vielleicht für die Entwicklung der Jungen und das Überwinden der unterschiedlichen Traumata zweitrangig, doch es stört ein wenig, das diese Punkte am Ende übergangen werden. So wird man weder eine Auflösung hinsichtlich der Villa finden (in die Thomas immerhin eingebrochen ist), noch wird das Vergiften der Hunde zu einem Ende geführt, oder das Mobbing. Letztendlich hängt man als Leser in der Luft, da Jakob und Thomas viele Dinge tun, die nicht zu einer entsprechenden Reaktion der Umwelt führen. Das dämpft das Lesevergnügen durchaus, da man nicht das Gefühl hat, dass die Geschichte wirklich beendet ist. Es ist durchaus verständlich, warum der Autor diese Einschnitte vorgenommen hat, doch das Buch wirkt dadurch dennoch unfertig. Die beiden Protagonisten haben sich im Laufe der Zeit zwar weiterentwickelt, und einige persönliche Hürden überwunden, jedoch gleichzeitig neue Probleme heraufbeschworen, denen leider keine Beachtung geschenkt wird.
Wie bereits in dem Roman „Eine ganz andere Liebe“ ist Paul Senftenbergs Stil vollkommen eigen und in seiner Gesamtheit sehr belletristisch angehaucht. „Narben“ besticht durch einen sehr klaren, präzisen Schreibstil und kommt vollkommen ohne Kitsch und romantische Ausschmückungen klar. Allein dieser Punkt hebt das Buch angenehm aus der breiten Masse der aktuellen Veröffentlichungen heraus, da sich der Autor weder auf den romantischen, noch auf den erotischen Aspekt versteift, sondern eine neutrale, beobachtende Stellung bezieht und es dem Leser überlässt, zwischen den Zeilen zu lesen.
Am ehesten kann man das Buch mit Werken von Jana Walther vergleichen, die einen ähnlich nüchternen, dichten Stil hat. Wer also die Romane dieser Autorin kennt und mag, den können auch die Bücher von Paul Senftenberg überzeugen.
Fazit:
Alles in allem ist „Narben“ ein solider Roman, der mit seiner atmosphärischen, ernsten Geschichte, den realistischen Figuren und dem ungewohnten, aber präzisen Schreibstil punkten kann. Leider bleiben einige Punkte offen, die das Buch zum Ende hin ein wenig schwächen, doch wer sich nicht daran stört, dass nicht alle Fragen beantwortet werden, und keine Probleme damit hat, dass der Roman nur einen kleinen Teil von Jakobs und Thomas Welt beleuchtet, sollte einen Blick riskieren. Paul Senftenberg ist ein beeindruckendes Buch gelungen, und man darf gespannt sein, mit welchen Büchern der Autor als nächstes überrascht.