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review 2019-06-11 08:09
Niemand wird böse geboren
Fairest - Marissa Meyer

Als Marissa Meyer begann, die „Lunar Chronicles“ zu schreiben, wusste sie, dass die zentrale Antagonistin ihrer Geschichte auf der bösen Königin aus „Schneewittchen“ basieren würde. Ihre Figur faszinierte sie. Welche Frau würde so großen Wert auf Schönheit legen, dass sie bereit wäre, all diese furchtbaren Dinge zu tun? Was müsste dieser Frau zugestoßen sein, um diese Skrupellosigkeit zu entwickeln? Meyer gab ihrer bösen Königin den Namen Levana. Sie konzipierte ihre Biografie mental parallel zu den Heldinnen ihrer Reihe, stieß mit dieser Taktik jedoch an eine Grenze, als sie den letzten Band „Winter“ schrieb. Einige Szenen bereiteten ihr Schwierigkeiten. All diese Szenen hatten eines gemeinsam: sie drehten sich um Levana. Um ihre Blockade aufzulösen, entschied die Autorin, Levanas Hintergrundgeschichte auszuformulieren. Das Ergebnis ist der Zwischenband „Fairest“, den man laut Meyer nicht zwangsläufig zwischen „Cress“ und „Winter“ lesen muss, der allerdings gewisse Entwicklungen in „Winter“ verständlicher gestaltet. Ich hielt mich an Meyers Empfehlung und las „Fairest“ nach „Cress“.

 

Cinder und ihre Verbündeten kennen Königin Levana als skrupellose, kaltherzige Herrscherin des Reiches Luna. Doch einst war sie ein junges Mädchen voller Hoffnungen und Träume. Am Hofe Lunas war sie unsichtbar. Sie wollte geliebt werden, sehnte sich nach Aufmerksamkeit und Respekt. Sie wurden ihr verwehrt. Ihre Einsamkeit vergiftete ihre Seele, bis sie vor nichts mehr zurückschreckte, um ihre ehrgeizigen Ziele zu erreichen. Dies ist ihre Geschichte, eine Geschichte voller Tragik und Leid. Denn niemand wird als böse Königin geboren.

 

Ich bin sehr froh, dass Marissa Meyer „Fairest“ schrieb und veröffentlichte. Meiner Meinung nach ist es der bisher beste Band der „Lunar Chronicles“ und eine wertvolle Ergänzung der Reihe, die mein Verständnis der Ereignisse vertiefte und Königin Levana in ein anderes Licht rückte, weg von der einseitigen Darstellung als ultrafiese Antagonistin. Levanas Biografie ist eine Tragödie voll enttäuschter Liebe und traumatischer Erfahrungen, die mein Mitgefühl weckte und ihre Motivationen nachvollziehbar und einfühlsam enthüllte. Sie ist garantiert kein Unschuldslamm und trifft egoistische und oft schlicht grausame Entscheidungen, aber nicht, weil sie von Geburt an eine schlechte Person wäre, sondern weil sie einsam, zornig und bedauernswert unglücklich ist. Sie wurde emotional verkrüppelt und rutschte langsam in ihren ganz persönlichen Wahnsinn hinab, der sie jede abscheuliche Tat vor sich selbst rechtfertigen lässt. Ich fand es erstaunlich, dass sie angesichts der Schwere der psychischen Verletzungen, die ihr seit frühester Kindheit zugefügt wurden, überhaupt zu einer einigermaßen verträglichen Persönlichkeit heranwuchs. Es hätte noch viel schlimmer kommen können, denn Levana hatte niemals ein positives Vorbild, keinerlei Orientierung, die sie den Unterschied zwischen Richtig und Falsch lehrte. Das ist einerseits ein Versäumnis ihrer dysfunktionalen Familie, andererseits eine Folge der gesellschaftlichen Umstände auf Luna. Meyer bietet mit „Fairest“ nicht nur ein überzeugendes Porträt von Levana, sie gewährt ihren Leser_innen darüber hinaus intime Einblicke in Lunas soziale, politische und wirtschaftliche Strukturen. Das Königreich des Mondes ist eine klassische, totalitäre Monarchie, die sich klar in eine Elite und das gemeine Volk teilt. Lunas Hof vermittelt eine entschieden barocke Atmosphäre; Protz und Prunk beherrschen das Bild und der Adel vertreibt sich die Zeit mit komplizierten Intrigen. Echtes politisches Interesse ist rar gesät, weshalb ich geschockt war, dass sich Levana tatsächlich als gute Königin entpuppt, die sich aufrichtig um das Wohl Lunas sorgt. Es wäre allerdings ein Fehler, anzunehmen, dass ihre Bemühungen die Nöte ihrer Untergebenen berücksichtigen würden. Levana begreift ihr Reich nicht als Gesamtheit ihres Volkes, sondern als abstrakte Idee und Verlängerung ihres Ichs. Deshalb ist es für sie keineswegs problematisch, Erlasse zu realisieren, die herzlos wirken. Ihre oberste Priorität besteht darin, Luna als Nation voranzubringen und aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Erde zu führen. Aus dieser Perspektive betrachtet und unter Einbeziehung ihrer kulturellen Prägung sind die meisten ihrer politischen Entscheidungen vollkommen logisch und naheliegend. Dennoch hat ihr Plan, die Erde zu kontrollieren, überraschend wenig mit politischem Kalkül zu tun. Nein, darin zeigt sich das verzweifelte kleine Mädchen, das Levana in ihrem Inneren noch immer ist und ihre zunehmende Distanz zur Realität. Ach, was hätte aus ihr werden können, wäre all ihr Potential nicht in Negativität gelenkt worden?

 

Ich glaube, Marissa Meyer und ich haben etwas gemeinsam: wir haben ein Herz für böse Königinnen. Meiner Ansicht nach muss sie Levana trotz ihrer Fehler wahrhaft lieben, sonst hätte sie „Fairest“ nicht schreiben können. In diesem Zwischenband erstellt sie ein glaubhaftes, fundiertes psychologisches Profil, das nachdrücklich Empathie für eine Figur einfordert, die bisher sicherlich keine Sympathieträgerin war. Sie diktiert ihren Leser_innen nicht, wie sie für Levana zu empfinden haben, sie ruft uns lediglich ins Gedächtnis, dass niemand böse geboren wird. Levana ist das Produkt einer Vielzahl verstörender Erlebnisse, die nicht spurlos an ihr vorbeigingen. Ich habe sehr viel über sie gelernt und war fasziniert davon, wie sie sich selbst sieht. Obwohl „Fairest“ streng genommen nicht zur Geschichte der „Lunar Chronicles“ zählt, kann ich euch nur empfehlen, nicht auf die Lektüre zu verzichten. Es ist ein leuchtendes Stück Young Adult – Literatur, ein Buch, das sich nicht nur im Rahmen der Reihe lohnt, sondern auch für sich selbst. Viele Autor_innen können liebenswerte Figuren konzipieren – nur wenige können Figuren erschaffen, die man nicht mögen muss, um sie zu verstehen.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/06/11/marissa-meyer-fairest
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review 2019-05-07 15:12
Besser als Slasher
Final Girls - Riley Sager

Bevor ich mit der Rezension des Thrillers „Final Girls“ von Riley Sager beginne, möchte ich euch theoretischen Kontext zum Titel bereitstellen. Das Final Girl ist die einzige Überlebende eines Slasher-Horrorfilms. Normalerweise entspricht sie einem bestimmten Typ: sie ist brünett, klug und introvertiert. Während ihre jugendlichen Freunde über die Stränge schlagen, bleibt sie verantwortungsbewusst und anständig. Ihre moralische Überlegenheit befähigt sie, sich erfolgreich gegen den Killer zu wehren; ihre Freunde hingegen werden für ihre Zügellosigkeit brutal mit dem Tod bestraft. Die Verteilung von Genderrollen spielt in diesem Analyseansatz eine maßgebliche Rolle, ich möchte hier allerdings nicht zu sehr ins Detail gehen. Für diese Rezension müsst ihr lediglich wissen, dass Riley Sager diese Theorie aufgriff und das Final Girl in den Mittelpunkt seines Thrillers stellte.

 

Drei Massaker. Drei Tragödien. Drei Überlebende: Lisa, Samantha und Quincy. Die Presse nennt sie Final Girls. Quincy hasst diesen makabren Spitznamen. Sie hasst die Aufmerksamkeit, die damit verbunden ist. Sie erinnert sich nicht an die schreckliche Nacht in Pine Cottage, die sie beinahe das Leben kostete. Sie möchte sich auch nicht erinnern. Doch als Lisa tot aufgefunden wird und Sam plötzlich vor ihrer Tür steht, muss sich Quincy ihrer traumatischen Vergangenheit stellen. Sie befürchtet, dass irgendjemand beenden will, was vor vielen Jahren für sie alle begann. Antworten wird sie nur in den verschollenen Tiefen ihres Gedächtnisses finden – aber kann sie sich selbst überhaupt trauen? Oder vergaß sie mehr als das Blut, die Schreie und die Leichen ihrer Freunde? Vergaß sie ihre Schuld?

 

Ich habe „Final Girls“ verschlungen. Ich ahnte vor der Lektüre, dass dieser Thriller genau richtig für mich sein würde und ich behielt Recht. Seit meiner Jugend liebe ich Slasher-Filme. Als ich ein Teenager war, gehörten Streifen wie „Scream“ oder „Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast“ zu jeder Übernachtungsparty. Irgendwann stellte ich jedoch fest, dass sich all diese Filme stark ähneln. Die Handlungen sind vorhersehbar und häufig wirklich dumm, Stichphrase „Wir sollten uns aufteilen“. Meine Begeisterung verebbte und flammte erst wieder auf, als ich Jahre später über die Theorie des Final Girls stolperte. Diese Analyse fasziniert mich, weil sie die tiefgründigen Vorgänge in einem Slasher aufschlüsselt und mir eine neue Perspektive auf die Filme meiner Jugend bietet. Riley Sagers Thriller „Final Girls“ geht auf beide Aspekte ein und konnte deshalb nur die ideale Lektüre für mich sein. Im Gegensatz zu den filmischen Vorlagen ist das Buch überhaupt nicht vorhersehbar. Es ist überraschend, unerwartet und vollkommen mind-blowing. Ich fand es unfassbar spannend und habe den Großteil innerhalb einer Nacht weggesuchtet, weil ich nicht aufhören konnte, zu lesen. „Final Girls“ ist keine Adaption der populären Filme, vielmehr zeigt es, wie es den Überlebenden später ergehen könnte und illustriert sowohl die emotionalen, psychischen Traumata als auch die Bewältigungsstrategien der Betroffenen. Sager konzipierte sehr glaubwürdige, realistische Figuren, die nichts mit den stereotypen Charakteren zu tun haben, die ich mit Slasher-Horror assoziiere. Im Fokus steht Quincy, die einzige, die vor Jahren das Pine Cottage Massaker überlebte. Quincy leidet unter dissoziativer Amnesie und erinnert sich lediglich lückenhaft an die furchtbare Nacht, in der ihre engsten Freunde starben. Ihre Leidensgenossinnen sind Lisa und Samantha, die ähnliches durchmachten. Ihre Beziehung zueinander war schwierig, aber als Lisas Leiche entdeckt wird, ist Quincy verständlicherweise erschüttert – und verängstigt. Kurz darauf taucht Sam unangekündigt bei ihr auf, angeblich, um nach ihr zu sehen. Mit Sams Besuch verwandelt sich der Thriller in eine beklemmende, mitreißende Tour de Force, die mich alles in Frage stellen ließ, was ich zu wissen glaubte. Quincys Erinnerungen kommen in verwirrenden, widersprüchlichen Flashbacks zurück, die den Spannungsbogen permanent aufrechterhielten. Ich begann, alles und jede_n zu verdächtigen. Ich beschuldigte Sam, bezichtigte Quincys Lebensgefährten Jeff und bezweifelte Quincys Rolle in den Ereignissen in Pine Cottage. Die Atmosphäre der Ungewissheit beeinflusste nicht nur die Suche nach Lisas Mörder, sondern auch meine Einschätzung der Protagonistin, weil ich mich fragte, ob ihr Tatsachen des Massakers verschwiegen wurden, um sie zu schützen. Riley Sager brachte mich so weit, dass ich Quincy sogar unterstellte, etwas mit den Morden zu tun zu haben. Trotz meiner Bereitschaft, allen Figuren zu misstrauen, lag ich mit meinen Vermutungen, was wirklich geschehen sein könnte, letztendlich meilenweit daneben. Der Autor schockierte und verblüffte mich; er konstruierte ein haarsträubendes Szenario voller ungeheuerlicher Wendungen, das meine kühnsten Theorien mühelos überflügelte. „Final Girls“ ist ein Thriller allererster Güte, denn er bringt das Kopfkino auf Touren und ist dennoch absolut unberechenbar.

 

Als ich die Lektüre von „Final Girls“ beendete, hatte ich das Gefühl, aus einem wilden Rausch aufzutauchen. Ich konnte das Adrenalin in meinen Adern spüren und genoss die Belohnung eines rundum befriedigenden Abschlusses. Ich habe an Riley Sagers Thriller nicht das Geringste auszusetzen und bin begeistert, wie clever er die Final Girl – Analyse in eine aufregende, dramatische Geschichte übertrug, die mir im positiven Sinne eine schlaflose Nacht bescherte. Ich kann kaum glauben, dass es sich um ein Debüt handelt. Ich habe seinen nächsten Roman „Last Time I Lied“ bereits auf meine Wunschliste gesetzt. Einen literarischen Rockstar dieses Kalibers muss ich im Auge behalten und ich kann euch nur empfehlen, euch selbst mit „Final Girls“ von seinem Talent zu überzeugen. Ich verspreche euch, niemand hält es in diesem Buch für eine gute Idee, sich aufzuteilen. ;-)

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/05/07/riley-sager-final-girls
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review 2017-12-13 11:01
Er ging Zigarettenholen
Frankenstein - Mary Shelley

„Frankenstein“ (Untertitel: „The Modern Prometheus“) von Mary Shelley ist meiner Meinung nach Pflichtlektüre, interessiert man sich für Fantastik- und Science-Fiction-Literatur. 1818 anonym erstveröffentlicht, entwickelte es sich zu Shelleys bekanntestem Werk, das die Pop-Kultur wie kein zweites prägte. Die damals 18-jährige Autorin wurde von einem Albtraum inspiriert, der sie 1816 heimsuchte, während sie in Begleitung ihres Ehemannes Percy Bysshe Shelley und ihrer Stiefschwester Claire Clairmont Lord Byron in Genf besuchte. Bis heute ist umstritten, welche Einflüsse Mary Shelleys Traum auslösten, es scheint jedoch sicher, dass der in der Gruppe diskutierte Galvanismus ein entscheidender Faktor war. Für mich spielt es letztendlich keine Rolle, warum Shelley die Geschichte des Wissenschaftlers Victor Frankenstein niederschrieb – ich freue mich einfach, dass ich sie 200 Jahre später lesen kann.

 

Von Kindesbeinen an wird Victor Frankenstein von seinem unstillbaren Verlangen nach Erkenntnissen getrieben. Sein Wissensdurst ist grenzenlos. Er trachtet danach, die Geheimnisse von Leben und Tod zu entschlüsseln. Als Student in Ingolstadt profitiert er von den jüngsten Ergebnissen der modernen Forschung des 19. Jahrhunderts. Erfüllt von fieberhaftem Ehrgeiz gelingt ihm, wozu nur Gott fähig sein sollte: die Belebung toten Fleisches. Berauscht erschafft Frankenstein die unheilige Kopie eines Menschen. Doch seine Schöpfung entpuppt sich als abstoßend, monströs. Angewidert von der Frucht seiner Arbeit wendet sich Frankenstein ab. Die Ablehnung seines pervertierten Kindes wird ihm zum Verhängnis, denn das Monster weigert sich, seine Zurückweisung zu akzeptieren. Verbunden durch gegenseitigen Hass beginnen Schöpfer und Schöpfung einen tödlichen Tanz, der sie bis ans Ende der Welt führt.

 

„Frankenstein“ von Mary Shelley gilt als der erste Science-Fiction-Roman der Geschichte. Es ist immer schwierig, einen Klassiker, der so großen Einfluss auf Literatur und Kultur hatte, zu rezensieren. Oberflächlich scheint „Frankenstein“ lediglich der Unterhaltung zu dienen; erst in der Tiefe offenbaren sich zahlreiche elementare Themen, die sich um die zentrale Schöpfungsgeschichte des namenlosen Monsters herumranken. Dadurch entsteht eine verblüffende Ambiguität, die eine gradlinige Einteilung in Gut und Böse strikt verweigert. Die psychologisch konsequente, realistische Konstruktion der Protagonisten erlaubt der Geschichte, weit über diese engen Dimensionen hinauszuwachsen. „Frankenstein“ enthüllt sich als Tragödie dunkelster Couleur, die unausweichlich fatal enden muss. Ich war in vielerlei Hinsicht von der Lektüre überrascht. Am meisten erstaunte mich, dass ich Victor Frankenstein seinem Monster vorzog. Ich bin vom Gegenteil ausgegangen. Ein Grund ist sicher die Ich-Perspektive des ehrgeizigen Wissenschaftlers, doch diese Erklärung genügt nicht, um meine Schwierigkeiten mit dem Monster zu determinieren. Obwohl ich den Status der Kreatur als einsame, enttäuschte und verlassene Schöpfung anerkenne und objektiv Mitgefühl empfinde, stieß mich ihre aggressiv-explosive Seite ab. Das Monster ist kein rehäugiger, sanfter Galan, es wird von Zorn und Rachsucht beherrscht. Selbstverständlich sind diese Gefühle gerechtfertigt, aber die Verbissenheit, mit der es eine tödliche Fehde mit Frankenstein provoziert, erschien mir kleingeistig, selbstzerstörerisch und seines intellektuellen Potentials nicht würdig. Anstatt die Zurückweisung seines Schöpfers als Chance zu interpretieren und seine miserable Existenz eigenständig zu verbessern, reagiert es jähzornig und gewalttätig, wenn seine plumpen, ungelenken Versuche, Kontakt mit der Gesellschaft aufzunehmen, scheitern und versteift sich auf die widerwärtig egoistische und gewissenlose Idee, Frankenstein schulde ihm eine Gefährtin. Als dieser ablehnt, gewinnt der obsessive Hass des Monsters auf seinen Schöpfer die Oberhand. Aufgrund dieser Negativentwicklung war ich nicht in der Lage, mich dem Monster emotional zu nähern. Das heißt jedoch nicht, dass ich Victor Frankenstein als Opfer betrachte. Von Arroganz geblendet und frei von Demut schwingt er sich eigennützig zum Schöpfer auf, leugnet seine menschliche Fehlbarkeit, die ihm erst der erschreckende Anblick seiner Schöpfung vor Augen führt. Er bereut, dass er keinen Menschen nach seinem Abbild formen konnte. Er bereut nicht, sich überhaupt an der Schöpfung vergangen zu haben. Er ist sich bis zum Ende keiner Schuld bewusst, spricht sich von jeglicher Verantwortung frei und weigert sich, sein Versagen hinsichtlich seiner bizarren Elternrolle einzugestehen. Mit seiner gleichgültigen Grausamkeit verdammt er das Monster und sich selbst unwiderruflich. Die Sünde, seine Schöpfung im Stich zu lassen, ist unverzeihlich. Victor Frankenstein ist ein Vater, der Zigarettenholen ging und nie zurückkehrte.

 

Mary Shelley war ihrer Zeit weit voraus. Nicht nur literarisch, als Begründerin eines komplett neuen Genres, sondern auch gesellschaftsphilosophisch. „Frankenstein“ ist eine anregende Diskussion des Rechts auf Leben, der Position des Individuums in der Gesellschaft und des Grabens zwischen Schöpfer und Schöpfung. Obwohl Mary Shelley keine überragende Autorin war, kaschierte sie ihre Schwächen elegant und wirkungsvoll, indem sie sich hinter ihrer Geschichte völlig zurücknahm und ihren Figuren bescheiden das Rampenlicht überließ. Für mich war die Lektüre interessant und wertvoll, weil sie mir die ursprüngliche Form der Legende des Victor Frankenstein fernab von verfälschten Verfilmungen näherbrachte, die Erzählung, die der historische Beginn der Science-Fiction war. Ich hoffe, dass Mary Shelley im Jenseits beobachten kann, wie viel sie für die (weibliche) Literatur getan hat und sich daran erfreut, dass ihr Roman, der einst einem Albtraum entsprang, 200 Jahre nach seinem Erscheinen noch immer gelesen wird.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/12/13/mary-shelley-frankenstein
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review 2017-10-26 10:01
Schuldig oder unschuldig?
Im Traum kannst du nicht lügen: Roman - Malin Persson Giolito,Thorsten Alms

Auf „Im Traum kannst du nicht lügen“ von Malin Persson Giolito wurde ich durch den Newsletter der Lesejury von Bastei Lübbe aufmerksam. Die Mail pries den Thriller, der als bester Kriminalroman Schwedens 2016 ausgezeichnet wurde, für eine Leserunde an. Meine Erfahrungen mit Leserunden waren bisher eher negativ, doch der Klappentext weckte meine Neugier. Ich gab der umfangreichen Leseprobe eine Chance. Die ersten 60 Seiten nahmen mich gefangen. Ich wollte überhaupt nicht mehr aufhören zu lesen und schoss all meine Zweifel spontan in den Wind. Für dieses Buch würde ich die Leserunde in Kauf nehmen. Ich bewarb mich und erhielt etwa 2 Wochen später die Zusage. Was machte ich für Augen, als ich in meinem Briefkasten kein Buch, sondern ein echtes Manuskript vorfand, das extra für mich gedruckt worden war! Mühsam geduldete ich mich bis zum vorgegebenen Termin, um die Lektüre gemeinsam mit allen anderen zu beginnen.

 

Als die Polizei das Klassenzimmer in Stockholm stürmte, saß die 18-jährige Maja Norberg in der Mitte des Raumes. Überall war Blut. Um sie herum lagen die regungslosen Körper ihrer besten Freundin Amanda, ihres Lehrers Christer und ihrer Mitschüler Samir und Dennis. Auf ihren Schoß hatte sie den Kopf ihres Freundes Sebastian gebettet. Sebastian, der Sohn des reichen Unternehmers Claes Fagermann. Sebastian, der langsam kalt wurde. In der Luft hing der Geruch nach faulen Eiern und Pulverrauch. In ihrer Hand hielt Maja eine Waffe. Sie war unverletzt.
Jetzt, Wochen später, muss sich Maja vor Gericht verteidigen, während ganz Schweden von ihrer Schuld überzeugt ist. Doch was ist wirklich in dem Klassenzimmer geschehen? Wie kam es zu dem Massaker, das mehrere Menschen das Leben kostete? Ist Maja eine Mörderin?

 

Was ist das wichtigste Element eines guten Thrillers? Wenn ihr mich fragt, ist es der Spannungsbogen. Ein Thriller darf weder langweilig, noch zu vorhersehbar sein, er sollte den Leser_innen aber trotz dessen die Möglichkeit bieten, mitzurätseln. „Im Traum kannst du nicht lügen“ stellt meiner Meinung nach die geschickteste Konstruktion eines Spannungsbogens dar, die mir in diesem Genre jemals untergekommen ist. Das Buch ist überwältigend. Es lebt von der Frage, was geschehen ist, ob Maja, die eigentlich Maria heißt, tatsächlich in der Lage war, ein Blutbad anzurichten. Die Spannung wird die ganze Zeit aufrechterhalten, flaut niemals ab und riss mich mit. Ich ahnte bereits nach der Leseprobe, dass dieser Thriller außergewöhnlich sein könnte und ich behielt Recht. Malin Persson Giolito lässt ihre Leser_innen grübeln, mitfiebern, abwägen, zweifeln, mutmaßen und hoffen. Die nichtlineare, bruchstückhafte Erzählweise der Protagonistin Maja, der die Autorin erlaubt, ihre Geschichte selbst in Ich-Perspektive zu schildern, wirkt ungemein realistisch und erzeugt eine enorme Nähe, die sich stetig steigert, bis sie im letzten Viertel des Romans sogar die vierte Wand durchbricht und die Leser_innen direkt anspricht. Wir treffen Maja zu Beginn ihres Prozesses und das erste, was mir an ihr auffiel, war die unbändige Wut ihrer kalten, harschen Worte. Sie erschien distanziert, genervt, nahezu desinteressiert am Verlauf ihrer eigenen Verhandlung. Obwohl sie sich dadurch nicht gerade als Sympathieträgerin qualifizierte, hatte mich Malin Persson Giolito auf diese Weise sofort am Haken. Ich wollte wissen, warum Maja so zornig ist und begriff bald, dass sich unter ihrem Zorn ein Meer der Resignation, Schuld und Verzweiflung verbirgt, das mir beinahe das Herz brach. Ihr Charakter, ebenso wie die Chronologie der Ereignisse, die zu dem Massaker im Klassenzimmer führten, schälen sich absichtlich sehr langsam heraus. Ich lernte sie in ihrem eigenen Tempo kennen und entwickelte Stück für Stück Sympathie und Mitgefühl für sie, wodurch sich der emotionale Sog ihrer Erzählung graduell verstärkte. Maja stammt zwar aus einem gut situierten Elternhaus, wofür sie in der sensationslüsternen schwedischen Presse wiederholt angegriffen wird, doch Geld schützt eben nicht vor Schmerz und Kummer. In den Monaten und Wochen vor der Bluttat war sie verloren, überfordert, einsam. Ich sehe euch jetzt bereits wissend mit dem Kopf nicken. Vermutlich ergeht es euch ähnlich wie mir: ihr neigt dazu, zur naheliegenden Schlussfolgerung zu springen und Maja vorzuverurteilen. Haltet ein. So einfach ist es nicht. Diese Geschichte ist viel komplizierter, als sie anfangs erscheint und ich musste tatsächlich den Schlussakt abwarten, um endlich herauszufinden, ob Maja eine Mörderin ist. Für mich steht fest, dass „Im Traum kannst du nicht lügen“ eine Tragödie ist; nicht nur aufgrund des grauenvollen Massakers, sondern auch, weil sie eigentlich nicht ihre Tragödie ist. Schuldig oder nicht – Maja ist ein Opfer.

 

Mein Leseerlebnis mit „Im Traum kannst du nicht lügen“ war fantastisch. Einerseits ist das Buch ein hervorragender Thriller, in dem Malin Persson Giolito munter und unberechenbar mit der Erwartungshaltung der Leser_innen spielt und das brillante, glaubhafte und einfühlsame Bild einer verzweifelten Jugendlichen zeichnet, andererseits gefiel mir auch die Leserunde der Lesejury erstaunlich gut. Ich empfand den Austausch mit anderen Leser_innen als wertvoll, da ich früh einsehen musste, dass ich viele meiner Überlegungen und Theorien in dieser Rezension nicht würde verwenden können, ohne heftig zu spoilern. Die Ungewissheit während des Lesens hält Spannung und Geschichte am Leben; sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Romans, der Neugier schürt und zu eigenen Hypothesen einlädt. Diese Erfahrung möchte ich niemandem nehmen, weshalb ich versucht habe, so vage wie möglich von „Im Traum kannst du nicht lügen“ zu berichten. Meiner Ansicht nach steht der Autorin eine schillernde Karriere bevor und ich bin froh, dass mir Bastei Lübbe die Möglichkeit einräumte, an ihrem Anfang dabei zu sein. Malin Persson Giolito ist ein Name, den man sich unbedingt merken sollte.

 

Vielen Dank an die Lesejury und Bastei Lübbe für die Bereitstellung dieses Rezensionsexemplars im Austausch für eine ehrliche Rezension!

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/10/26/malin-persson-giolito-im-traum-kannst-du-nicht-luegen
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review 2016-11-08 10:11
Die Schattenseite bedingungsloser Liebe
Vanishing Girls - Lauren Oliver

Langsam aber sicher mausert sich Lauren Oliver zu einer Autorin, der ich blind vertraue. Abgesehen von ihren Kinderbüchern habe ich bisher all ihre Veröffentlichungen gelesen und wurde nicht ein einziges Mal enttäuscht. Ich weiß, dass ich mit ihren Büchern im Grunde nichts falsch machen kann und denke nicht einmal mehr darüber nach, ob ich sie lesen möchte. So kam es, dass ich „Vanishing Girls“ auf meine Wunschliste setzte und kaufte, ohne jemals den Klappentext gelesen zu haben. Ich ging völlig unbelastet an das Buch heran. Ich vertraute Lauren Oliver, dass sie mich erneut überzeugen würde.

 

Betrachtet sich Dara im Spiegel, wird sie an den Unfall erinnert. Wann immer sie ihr von Narben entstelltes Gesicht sieht, überwältigt sie die Wut auf ihre Schwester Nick. Nick, die am Steuer saß. Nick, die das Unverzeihliche tat. Nick, die das heilige Band zwischen Schwestern verriet.
Betrachtet Nick alte Fotos, die sie und Dara gemeinsam zeigen, möchte sie angesichts der Ungerechtigkeit laut schreien. Es ist nicht fair, dass ihre Schwester sie mit Schweigen straft und so tut, als existiere sie nicht. Daras schwere Verletzungen sind nicht allein ihre Schuld. Schließlich war nicht sie es, die den Sicherheitsgurt löste.
Der Unfall riss einen tiefen Graben zwischen die beiden Schwestern. Doch Blut ist dicker als Wasser und als Dara an ihrem Geburtstag spurlos verschwindet, ist Nick fest entschlossen, sie zu finden. Sie ist überzeugt, dass eine Verbindung zu der 9-jährigen Madeline Snow besteht, die ebenfalls vermisst wird. Was ist mit Dara und Madeline passiert? Wurden sie entführt? Nick läuft die Zeit davon. Um ihre Schwester zu finden, muss sie sich ihren Erinnerungen an die Nacht stellen, die alles veränderte: die Nacht des Unfalls.

 

Lauren Olivers Entwicklung als Autorin ist phänomenal. Seit ihrem ersten Roman „Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie“ hat sich ihr Schreibstil merklich verfeinert. Mit jedem neuen Buch wächst sie weiter über sich hinaus und beschreitet mutig unkonventionelle Wege. Für das Young Adult – Genre ist sie meines Erachtens nach ein Segen, weil sie es aus der Banalität heraushebt. Ihre Werke zeichnen sich durch Signifikanz, Bedeutsamkeit und schriftstellerische Finesse aus. Sie schreibt ihre Ideen nicht einfach runter, sie konzipiert sie mit Bedacht, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. „Vanishing Girls“ ist die herzzerreißende Geschichte zweier Schwestern, deren intensive, an Seelenverwandtschaft erinnernde Liebe zueinander im Widerstreit mit der Rivalität zwischen ihnen liegt. Nick und Dara waren stets zwei Seiten derselben Münze: Nick, die Fleißige, verantwortungsbewusst und zuverlässig; Dara, die Beliebte, deren Schönheit ihr alle Türen öffnete und die nur allzu gern über die Stränge schlug. Zwei Mädchen, die genau die Eigenschaften und Qualitäten aneinander bewunderten und beneideten, die sie selbst nicht besaßen. Nach ihrem schweren Autounfall glauben beide, dass es diese eine Nacht war, die ihre Beziehung scheinbar rettungslos beschädigte, doch je weiter die Handlung voranschreitet, desto deutlicher wird, dass sich die ersten Risse viel früher einschlichen und der Unfall lediglich die sichtbare Eskalation ihrer Differenzen war. Lauren Oliver unterstreicht diese sich langsam entwickelnde Erkenntnis durch die inkonsequente, nichtlineare Struktur des Buches, die hervorragend zur Geschichte passt. Sie wechselt zwischen Nicks und Daras jeweiliger Ich-Perspektive, springt von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück, involviert Online-Artikel, um besonders schlimme, dramatische Fakten für sich selbst sprechen zu lassen – sie malt das Bild einer tiefen Verbindung, deren chaotischer Verlauf das Ergebnis der involvierten Gefühle ist. Anfangs erschien mir diese Erzählweise verwirrend; es dauerte etwas, bis ich in den Rhythmus der Geschichte fand. Letztendlich half mir die starke emotionale Zugkraft, mich zu orientieren. Ich begann zu begreifen, dass jede Szene, so losgelöst sie erscheinen mochte, ein wichtiges Puzzleteil in der Tragödie von Nick und Dara darstellt. Der Handlungsstrang der verschwundenen Madeline dient dabei als Brücke zwischen den Schwestern, als Tor zu verdrängten, vergrabenen Erinnerungen, die zum Höhepunkt des Buches führen. Die haarsträubende Wendung, die Oliver zum Ende für ihre Leser_innen bereithält, überraschte mich nicht. Ich ahnte es bereits nach etwa 200 Seiten. Trotzdem möchte ich „Vanishing Girls“ nicht als vorhersehbar bezeichnen, denn ich zweifelte bis zur Auflösung an meiner Vermutung und empfand eine überwältigende Ungeduld, weil ich unbedingt wissen wollte, ob ich richtiglag. Dadurch erschien mir das Buch noch spannender, als es ohnehin ist. Mein Lesespaß verdoppelte sich – unbestreitbar ein positiver Effekt.

 

„Vanishing Girls“ ist eine Geschichte von Liebe, Schmerz, Enttäuschung und Schuld, wie sie vermutlich ausschließlich in einer Familie geschehen kann. Nur Menschen, die einander so viel bedeuten wie Nick und Dara sind in der Lage, sich gegenseitig so zu verletzen. Lauren Olivers größtes Talent ist und bleibt ihre Fähigkeit, sich in ihre Figuren hineinzuversetzen und sie psychologisch glaubhaft agieren und empfinden zu lassen. Sie arbeitete die widersprüchlichen Gefühle der Schwestern Nick und Dara fabelhaft heraus, sodass nie Zweifel daran bestanden, dass ihre gebrochenen Herzen in ihrer Liebe zueinander begründet sind. Ich habe die Lektüre sehr genossen, weil ich selbst eine Schwester habe. Ich weiß, dass bedingungslose Liebe durchaus auch Schattenseiten haben kann.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/11/08/lauren-oliver-vanishing-girls
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