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review 2018-08-15 11:21
Willkommen bei der skurrilsten Selbsthilfegruppe der Welt
We Are All Completely Fine - Daryl Gregory

„We Are All Completely Fine“ von Daryl Gregory hat eine interessante Entstehungsgeschichte. Es erschien 2014, ein Jahr, bevor Gregory den lovecraftischen Horror-SciFi-Fantasy-Young Adult-Roman „Harrison Squared“ veröffentlichte. Diese Veröffentlichungsreihenfolge entspricht allerdings nicht der Reihenfolge, in der Gregory die Bücher geschrieben hat. „We Are All Completely Fine“ entstand nach „Harrison Squared“ und hätte ohne den YA-Roman wohl nie das Licht der Welt erblickt. In diesem geht es um den jungen Harrison, der seine Stadt Dunnsmouth vor einer Monsterinvasion retten muss. Nachdem er diese Geschichte abgeschlossen hatte, fragte sich Gregory, welche Konsequenzen sie für seinen Protagonisten haben könnte. Wie schlüge sich Harrison als Erwachsener? Garantiert wäre er traumatisiert, müsste Psychopharmaka schlucken und eine Therapie absolvieren. Was wäre, wenn es allen Held_innen von Monster- und Horrorgeschichten so erginge? Was wäre, wenn sie einmal die Woche zusammenfinden würden – in einer Selbsthilfegruppe?

 

Wir treffen uns einmal die Woche: Harrison, Barbara, Stan, Martin, Greta und die Leiterin unserer Gruppe, Dr. Jan Sayer. Wir alle haben Schreckliches erlebt. Wir tragen Wunden, Narben und unser ganz privates Trauma mit uns herum. Niemand glaubte uns. Man erklärte uns für verrückt, geistesgestört, psychotisch. Erst Dr. Jan hörte uns zu und gab uns einen sicheren Ort, um über unsere Erfahrungen zu sprechen. Wir sind die exklusivste Selbsthilfegruppe der Welt. Wir wurden vom Unnatürlichen berührt. All die Menschen, die an unseren Geschichten zweifeln, sollten sich eins fragen: was wäre, wenn sie wahr sind?

 

Ich liebe Autor_innen, die den Mut aufbringen, eine völlig absurde Geschichte lässig zu erzählen und ihre Leser_innen im Brustton der Überzeugung vor vollendete Tatsachen zu stellen. Mit „We Are All Completely Fine“ sucht Daryl Gregory die Konfrontation mit seinem Publikum. Er präsentiert eine komplett abgedrehte Szenerie und überlässt es seinen Leser_innen, aus den Fakten eine kohärente Geschichte zu formen. Er schubste mich in die Handlung hinein und erwartete von mir, mich selbst zurechtzufinden. Er hielt es nicht für nötig, irgendetwas zu erklären – er stellte die Weichen, damit ich selbst Erklärungen finden konnte. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten, mich auf dieses Konzept einzulassen. Ich fand es toll, dass Gregory durch seine selbstverständliche, entschiedene Zurückhaltung immensen gedanklichen und emotionalen Spielraum ermöglichte. Er zwang mir nichts auf, keine Schlussfolgerungen, keine Interpretationen. Er ließ mich einfach machen. Ich konnte vollkommen selbstbestimmt, ja geradezu emanzipiert lesen und die Handlung von „We Are All Completely Fine“ erleben, wie es mir passte. Und die hat es in sich, eine stimulierende Mischung aus oberflächlichem Wahnsinn und nachdenklicher Tiefe. Im Mittelpunkt stehen die Biografien von sechs Menschen, die ihre Begegnungen mit dem erschreckenden Unnatürlichen traumatisiert überlebten und nun versuchen, ihre Traumata durch eine Selbsthilfegruppe zu überwinden. Ich musste mich unwillkürlich fragen, was es hieße, hätten all die Menschen, die behaupten, Kontakt mit dem Übernatürlichen, Fantastischen und Überirdischen gehabt zu haben, keine Wahnvorstellungen. Angenommen, sie sagten die Wahrheit, wurden wirklich von Außerirdischen entführt oder von Monstern verfolgt – was bedeutete das für unsere Wahrnehmung der Realität? Die unfreiwillige Korrektur ihres Weltbildes spielt im Aufarbeitungsprozess der Figuren eine fundamentale Rolle. Sie müssen nicht nur verkraften, was sie physisch durchlitten, sie müssen auch lernen, diese neue, alternative Wirklichkeit zu akzeptieren. Dabei gehen sie ganz unterschiedlich vor. Obwohl sie alle auf ähnlich verstörende Erfahrungen zurückblicken, verarbeiten sie ihre Erlebnisse äußerst individuell. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie viel diebische Freude es Daryl Gregory bereitet haben muss, diese sehr verschiedenen Persönlichkeiten in einen Raum zu sperren und sie zur Interaktion zu zwingen. Die Selbsthilfegruppe ist ein Experiment, sowohl für den Autor, als auch für die Figuren, die passend zu ihren Charakteren mal mehr, mal weniger bereit sind, ihre Geschichten preiszugeben. Gregory beweist erneut vornehme Zurückhaltung und nötigt sie nicht, mehr zu erzählen, als sie möchten. Er offenbart nichts, was sie nicht selbst berichten, wodurch es für mich umso spannender war, ihre Biografien langsam und Stück für Stück ans Licht zu bringen. Ich hatte das Gefühl, dass er sich in der Rolle des Erzählers stark mit der Gruppe identifiziert, ein Eindruck, der durch seinen ungewöhnlichen Erzählstil unterstützt wurde. Der Erzähler spricht von sich oft als Teil der Gruppe, bleibt die ganze Handlung über jedoch anonym und taucht in den Sitzungsbeschreibungen nicht auf. Aber wenn er teilnimmt, ohne physisch anwesend zu sein, wer erzählt dann da eigentlich? Daryl Gregory beantwortete diese Frage in einem Interview – ich werde euch die Antwort allerdings nicht verraten. Wo bliebe sonst der Spaß? ;-)

 

„We Are All Completely Fine“ ist ein köstliches Vergnügen, voller Wahnsinn, Absurdität und philosophischem Surrealismus. Die Lektüre erfordert einen wachen, aufgeschlossenen Geist und die Bereitschaft, ein unkonventionelles Experiment zu wagen, ohne jede Kleinigkeit zu hinterfragen und auf explizite Erklärungen zu warten. Ich warne euch, es wird seltsam, fantastisch, abgefahren und manchmal sogar ein bisschen beängstigend. Daryl Gregory mag es extrem und schreckt vor Brutalität nicht zurück. Der Trick ist, hinter die schrillen, nervenaufreibenden Szenen zu blicken und auf die Bedeutung der stillen, nachdenklichen Momente zu achten. Wer sich auf diese Herangehensweise einlassen kann, wird ein einzigartiges Abenteuer erleben – mit der skurrilsten Selbsthilfegruppe aller Zeiten.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/08/15/daryl-gregory-we-are-all-completely-fine
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text 2016-11-22 17:49
Taktvoll aus dem Takt - Taktvoll aus dem Takt: Ein aphoristischer Gedankentango (Ebook)

 

Link zum Buch "Taktvoll aus dem Takt"

 

 

Mit den Texten des zweiten Aphorismen-Bandes „Taktvoll aus dem Takt" fordert die Autorin Christa Schyboll ihre Leser und Leserinnen heraus.
Hier geht es nicht nur allein um tiefere Einsichten, sondern auch um Doppeldeutigkeiten oder manch ein raffiniertes Wortspiel, an dessen Auslegung man seine eigenen Gedanken schärfen kann.
Der Widerspruchsgeist, den manch eine Aussage herausfordert, versteht die Autorin selbst als ein Kompliment an den scharf mitdenkenden Verstand des Lesers. Mag er sich zu seinem Vergnügen doch gern ein wenig die Zähne daran ausbeißen oder sich lächelnd und schmunzelnd zurücklegen und die Dinge auf eigene Weise in ihrer Hintergründigkeit beim Lesen erfassen.
So ist z. B. auch das feine Spiel der Betrachtung von kausalen Zusammenhängen zu sehen, denen auch ein akausales Geheimnis innewohnt.

Die Aphorismen und Sprüche sollen Anlass sein, sich selbst lustvoll auf die Spurensuche zu begeben. Eventuelle Irritationen beim Leser werden dabei als vorübergehende Wegweiser im dem Dschungel des eigenen Denkhorizontes verstanden.

Bei all dem kommt natürlich der feine Humor nicht zu kurz, dem neben der gedanklichen Tiefe ein absichtlich großer Spielraum eingeräumt wird.

 

 

www.christa-schyboll.de

 

 

 

 

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review 2015-12-09 09:58
Ein Comic ohne Bilder
Basaltblitz - Geburt eines Helden - Markus Tillmanns

Anfang November trat der junge Autor Markus Tillmanns an mich heran und bat mich, seinen Kurzroman „Basaltblitz: Geburt eines Helden“ zu lesen und zu rezensieren. Der Klappentext versprach eine witzige, aufregende Lektüre, also schaute ich mir an, was das allwissende Internet zu dem Buch zu sagen hatte. Dabei fand ich heraus, dass Markus Tillmanns bereits auf meiner Wunschliste vertreten ist. Zwar nicht mit „Geburt eines Helden“, sondern mit „Teufel“, aber da ich offenbar schon von selbst entschieden hatte, eines seiner Werke lesen zu wollen, nahm ich die Bitte um eine Rezension natürlich mit Freuden an.

 

Nick ist die Personifizierung des Wortes Loser: schmächtige Statur, keine Freunde und eine Superhelden-Comic-Sammlung, mit der er sein gesamtes Zimmer mehrschichtig tapezieren könnte. Hoffnung? Nicht in Sicht. Eine Besserung der Umstände? Unwahrscheinlich. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Denn als eines Tages plötzlich ein Meteorit in Nicks direkte Nachbarschaft kracht, zeigt sich, dass das Leben auch für einen hageren Nerd noch die eine oder andere Überraschung bereithält. Nicht nur schafft es Nick wie durch ein Wunder, sich mit dem Neuen in der Klasse anzufreunden, ihm unterläuft auch ein Fauxpas, der die Karten völlig neu mischt. Versehentlich verspeist er ein Stück des Meteoriten – und entwickelt über Nacht Superhelden-Fähigkeiten! Ein Traum geht in Erfüllung! Nick ist begeistert. Eine Kleinigkeit vergisst er allerdings. Jeder Superheld hat einen Gegenspieler…

 

Wenn Markus Tillmanns ebenso gut zeichnen wie schreiben könnte, wäre „Geburt eines Helden“ dann ein Comic? Ich glaube schon, denn selbst ohne bunte Bildchen liest sich dieses spezielle Stück Literatur wie ein Comicheft: flüssig, klar und gradlinig. Genau deshalb hat mir die Lektüre sehr viel Freude bereitet. Dieses kurze Buch ist genau das Richtige für Zwischendurch, wenn man mal nicht weiß, was man als nächstes lesen soll oder sich ein wenig leichte Ablenkung wünscht. Es ist witzig, rasant und kurzweilig; die typische Geschichte des sympathischen Underdogs, der sich durch unvorhersehbare Umstände in einen Superhelden verwandelt. Dank des Fangirls in meinem Herzen konnte ich Nicks Verwandlung begeistert verfolgen, was wohl auch daran lag, dass es so einfach ist, ihn zu mögen. Am Anfang der Geschichte ist er ein dermaßen bemitleidenswertes Häufchen Elend, dass man ihm die Kräfte, die er durch das Stück des Meteoriten erhält, wirklich gönnt. Auch hat es mich gefreut, dass er in Bruce (kurz Be), dem neuen Schüler in seiner Klasse, einen Freund findet, obwohl ich nicht so ganz begreife, wie man mit Be überhaupt befreundet sein kann. Meiner Ansicht nach ist er nicht von dieser Welt. Er wirkt ständig so fehl am Platz, dass ich mittlerweile vermute, dass in ihm wesentlich mehr steckt, als ich bisher erfahren durfte. Schließlich ist es schon ein gigantischer Zufall, dass Be ausgerechnet einen Tag nach dem Meteoriteneinschlag in Nicks Klasse auftaucht und dabei auch noch den Eindruck macht, als wüsste er nicht, warum er dort ist. Er macht mich neugierig und ist für sich allein schon ein Grund, die Reihe weiterzulesen.
Wie ihr jedoch seht, hat es trotz meiner Begeisterung nur für 3,5 Sterne gereicht. Ich finde „Geburt eines Helden“ toll, aber es ist nicht mit herkömmlichen Büchern oder Romanen vergleichbar. Viele der Punkte, die ich normalerweise von einer überzeugenden Lektüre erwarte, sind auf diesen Reihenauftakt gar nicht anwendbar. Es fühlte sich nicht richtig an, ihn höher zu bewerten und damit auf eine Stufe mit wahren Meisterwerken wie „A Game of Thrones“ von George R.R. Martin oder „Schiffbruch mit Tiger“ von Yann Martel zu stellen. Auf seine Weise ist dieser erste Band sehr unterhaltsam, nur bewegt er sich nun einmal in einem völlig anderen Rahmen als die Bücher, die ich sonst lese. Ich empfinde „Geburt eines Helden“ nicht als vollwertiges Leseprojekt, denn dafür ist es viel zu kurz und nicht handlungsintensiv genug. Die Ausrichtung auf zahlreiche schmale Episoden entspricht eben wirklich eher einem Comic als einem Roman.

 

Markus Tillmanns hat das Fangirl in mir sehr glücklich gemacht und dafür bin ich ihm dankbar. Leider teilt sich das Fangirl mein Inneres mit einer Hobby-Literaturkritikerin, die während des Lesens von „Geburt eines Helden“ ständig die Stirn gerunzelt hat, weil es so anders war als alles, woran sie sonst gewöhnt ist. Diesen Zwiespalt konnte ich nicht einfach ignorieren und musste ihn in meine Bewertung einfließen lassen. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass ich Spaß an der Lektüre hatte und auf jeden Fall weiterlesen möchte. Ich werde allerdings davon absehen, weitere Rezensionen für „Basaltblitz“ zu schreiben. „Basaltblitz“ reserviere ich mir als privates Vergnügen, das ich mir gönne, wenn ich eine Pause von der weiten Welt der Literatur brauche. Ich denke, es wird mir guttun, eine kleine Nische zu besitzen, in der ich nicht über Handlungsaufbau, Charakterkonstruktion und all den ganzen Schmu nachdenken muss, aus dem sich eine Rezension normalerweise zusammensetzt.
Wenn ihr ebenfalls einfach mal abschalten wollt und Superheld_innen liebt, dann besorgt euch „Basaltblitz: Geburt eines Helden“. Nicks Geschichte ist ein Comic ohne Bilder – vielleicht nicht besonders geistreich, dafür aber besonders entspannend.

Vielen Dank an Markus Tillmanns für dieses Rezensionsexemplar!

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/12/09/markus-tillmanns-basaltblitz-geburt-eines-helden
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