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review 2019-04-24 12:14
Unterhaltsam - nicht mehr, nicht weniger
We Were Liars - E. Lockhart

Die US-amerikanische Young Adult – Autorin Emily Jenkins, besser bekannt unter ihrem Pseudonym E. Lockhart, verfolgt nicht den Anspruch, ihren jugendlichen Leser_innen eine Lektion zu erteilen. Sie ist der Auffassung, dass Jugendliteratur nicht dazu verpflichtet, Rollenmodelle anzubieten. Ihrer Meinung nach enthält das Lesen von Fiktion grundsätzlich eine moralische Ebene, weil sie dazu einlädt, Empathie für andere Lebensrealitäten zu entwickeln. Ihr Job besteht darin, Geschichten zu erzählen, nicht, mit dem mahnenden Zeigefinger zu wedeln. Ich stimme ihr zu, denn ich denke, eigene Schlüsse zu ziehen, ist wesentlich lehrreicher. Diese Herangehensweise erlaubt Lockhart, ohne Gewissensbisse schwierige Hauptfiguren zu fokussieren, wie die Protagonistin Cady Sinclair im Mysterythriller „We Were Liars“.

 

Die Sinclairs sind eine respektable Familie. Sie sind schön, sie sind reich, sie sind perfekt. Nur die 17-jährige Cady passt nicht ins Bild. Seit ihrem Unfall vor zwei Jahren auf Beechwood, der kleinen Privatinsel der Familie, ist nichts mehr, wie es war. Sie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, gepeinigt von marternden Migräneanfällen, ihrer Erinnerungen beraubt. Sie weiß nicht, was damals im Sommer geschah, wie sie sich verletzte. Als Cady in diesem Sommer nach Beechwood zurückkehrt, wünscht sie sich nur, dass alles wieder normal ist. Doch sobald sie die Insel betritt, spürt sie, dass sich in der sorgfältigen Fassade ihrer Familie Risse zeigen. Niemand will ihre Fragen zu ihrem Unfall beantworten. Cady wird von verwirrenden Erinnerungsfetzen gequält. Sie ahnt, dass sie belogen wird. Aber ist es ihre Familie, die die Wahrheit vor ihr verbirgt – oder ist sie es selbst?

 

Ich habe die Bewertung von „We Were Liars“ nachträglich runtergestuft. Direkt nach der Lektüre war ich von der Intensität der Geschichte begeistert und vergab vier Sterne. Als ich später versuchte, meine Gedanken zu notieren, stellte ich fest, dass es mir schwerfiel. Jetzt, weitere Monate später, muss ich einsehen, dass dieser Thriller wenig Eindruck bei mir hinterließ und ich kein richtiges Gefühl für ihn heraufbeschwören kann. Ich empfinde… gleichgültige Leere. Dieser musste ich selbstverständlich auf den Grund gehen, denn während der Lektüre erschien mir das Buch durchaus emotional, also woher der Sinneswandel? Ich grübelte und kam zu dem Schluss, dass ich „We Were Liars“ zwar fesselnd und ergreifend fand, ihm meiner Ansicht nach jedoch ein entscheidender Bestandteil fehlt. Es mangelt am Herzstück eines jeden Young Adult – Romans: der Botschaft. Mag sein, dass andere Leser_innen das anders beurteilen, aber für mich hat das Buch keinerlei tiefere Bedeutung. Es ist einfach nur eine interessante Geschichte, nicht mehr, nicht weniger. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass ich mich kaum mit der Ich-Erzählerin Cady identifizieren konnte. Ihre Probleme sind sehr weit von meiner eigenen Lebensrealität entfernt. Cadys Familie ist Teil des US-amerikanischen Geldadels. Sie können ihren Stammbaum bis zur Mayflower zurückverfolgen. Die Sinclairs sind reich, sie sind stolz, sie sind elitär. Sie besitzen eine verdammte Privatinsel! In diesem Mikrokosmos, diesem Königreich, herrscht Cadys Großvater uneingeschränkt als Patriarch, der seine Töchter und Enkel nach Lust und Laune manipuliert. Sie alle sind von seinem Geld abhängig, weshalb er sie mit boshafter Freude gegeneinander ausspielt. Die Parallelen zu einem Märchen sind nicht von der Hand zu weisen und beabsichtigt, denn E. Lockhart involviert in unregelmäßigen Abständen Abschnitte, in denen Cady ihre Sippe aus der Märchen-Perspektive betrachtet. Ihr Schreibstil erinnert oft an Lyrik, dessen sanfte Poetik sie nutzt, um Situationen zu beschreiben, die alles andere als märchenhaft sind. Die Sinclairs sind das Paradebeispiel einer kaputten, dysfunktionalen Familie, in der Konflikte totgeschwiegen werden und Zuneigung mit Materiellem gleichgesetzt und stets an Bedingungen geknüpft ist. In diesem angespannten Verhältnis ist Cady der Faktor, der alles durcheinanderwirbelt, weil sie sich nach ihrem Unfall nicht mehr so benimmt, wie es von einer Sinclair erwartet wird. Dennoch wird sie wie ein rohes Ei behandelt, was für Cady natürlich frustrierend ist, weil sie allein mit ihren lückenhaften Erinnerungen zurechtkommen muss. Ihre partielle Amnesie beeinflusst die Atmosphäre von „We Were Liars“ maßgeblich, deren sepiagetönte, traumähnliche Qualität erst aufbricht, als Cady ihr Gedächtnis langsam wiedererlangt. Für mich war dieser milchige Schleier ein eindeutiger Hinweis darauf, dass in der Szenerie etwas nicht stimmt. Ich ahnte, dass Cady mehr als nur die Umstände ihres Unfalls vergaß. Der Reiz der Lektüre liegt demzufolge darin, herauszufinden, was ihr verschwiegen wird. Obwohl der inhaltliche Verlauf dadurch vorhersehbar war, fand ich die Enthüllung der Wahrheit überraschend und äußerst tragisch. Schade, dass sich darin für mich kein tieferer Sinn verbarg.

 

„We Were Liars“ soll den Leser_innen keine Lektion erteilen. Das ist für mich völlig in Ordnung, doch eine erkennbare Intension hätte ich mir schon gewünscht; irgendeine Botschaft, die sich auf mein eigenes Leben anwenden lässt. Offenbar erwarte ich das von Young Adult – Literatur. Es war nett, festzustellen, dass meine Familie völlig anders funktioniert als die Sinclairs und ich bin dankbar, dass wir keine Tragödie brauchen, um den Wert familiären Zusammenhalts zu begreifen, aber da Cadys Situation daher über keinerlei Verbindung zu mir als Leserin verfügt, hakte ich das Buch sehr schnell ab. Es berührte meine Seele nicht, weil es keine Resonanz mit meiner Persönlichkeit und Identität erzeugte. Ich bin keine Sinclair und werde niemals wie Cady sein. Zum Glück, möchte ich hinzufügen. Vielleicht können andere Leser_innen mehr aus der Geschichte herausziehen. Für mich war „We Were Liars“ lediglich unterhaltsam, Punkt.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/04/24/e-lockhart-we-were-liars
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review 2015-12-23 09:12
Die Tränen flossen in Strömen
Was fehlt, wenn ich verschwunden bin - Lilly Lindner

Lilly Lindner wurde berühmt durch die Veröffentlichung ihrer Biografie „Splitterfasernackt“ im Jahre 2011. Zugegebenermaßen ist dieses Buch an mir völlig vorbeigegangen. Der Name Lilly Lindner schob sich erst in mein Bewusstsein, als ihr neuster Roman „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ durch die Blogs tingelte und in höchsten Tönen gelobt wurde. Die Begeisterung der Blogger_innen war so groß, dass ich entschied, es lesen zu wollen, obwohl ich Bücher zum Thema psychische Erkrankungen mittlerweile eher meide. Was mich überzeugte, war, dass es sich bei diesem Buch um einen Briefroman handelt und Lindner die Perspektive einer Angehörigen einnimmt.

 

Für die 9-jährige Phoebe ist ihre große Schwester das Zentrum ihrer Welt. Niemand versteht sie so wie April. Doch nun ist April fort. Ihre Eltern haben sie in eine Klinik gebracht, weil sie krank ist. Phoebe versteht nicht, was Magersucht eigentlich bedeutet, aber sie spürt sehr genau, dass die Krankheit ihre Familie zerreißt. Allein mit Millionen Fragen tut sie das einzige, das ihr einfällt, um mit der Sehnsucht nach ihrer Schwester fertig zu werden: sie schreibt April Briefe. Obwohl sie niemals eine Antwort erhält, schickt sie fast täglich Worte hinaus in die Stille. Denn nur die Worte ermöglichen es Phoebe, die Leere, die April hinterlassen hat, einen kurzen Moment zu ertragen.

 

„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ ist das emotionalste Buch, das ich 2015 gelesen habe. Lilly Lindner ist eine beeindruckend talentierte Schriftstellerin, die eine extreme Nähe zu ihren Figuren erzeugt und auf diese Weise eine starke emotionale Resonanz provoziert. Ich konnte gar nicht verhindern, dass die Tränen in Strömen flossen. Es tat einfach so weh, diese Briefe zu lesen. Die Geschichte der beiden Schwestern hat mir wieder und wieder das Herz gebrochen. Ich wusste bereits vorher, dass Lindner nicht nur Phoebe eine Stimme verleiht, sondern auch April, doch darauf, wie intensiv ihre Verbindung ist und wie sehr sie einander in ihrer dysfunktionalen Familie brauchen, war ich nicht vorbereitet. Die beiden Mädchen sind hochintelligent und zutiefst missverstanden. Ihre Eltern sind von ihrer Intelligenz so eingeschüchtert, dass sie sie wie eine Krankheit behandeln. Sie sind überfordert und beschneiden die Kreativität ihrer Töchter, statt Phoebe und April angemessen zu fördern. Sie erwarten von ihnen, dass sie sich wie „normale“ Kinder verhalten. April ist unter dem Druck, ihren Erwartungen gerecht werden zu müssen, zerbrochen. Ihre Magersucht ist ein verzweifelter, stummer Hilferuf, den ihre Eltern sich meiner Meinung nach schlicht weigern zu sehen. Sie interessieren sich nicht dafür, warum April nicht isst und verschwenden ihre Zeit lieber mit fruchtlosen Anschuldigungen. Dabei ist ihre Art, April zu behandeln, nur ein Ausdruck ihrer eigenen Hilflosigkeit und Ohnmacht. Sie wissen nicht, wie sie auf ihre Tochter eingehen sollen und reagieren deshalb mit Wut. Sie stellen die falschen Fragen – wie könnte April ihnen einleuchtende Antworten geben? Phoebe ist die einzige, die April erreicht, doch Phoebe ist ein Kind. Weder ist es ihre Aufgabe, April zu retten, noch ist sie stark genug, das volle Gewicht von Aprils Traurigkeit zu tragen.
„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ ist ein großartiges Buch, das mich emotional sehr mitgenommen hat, alle Dämme in mir brach und definitiv eine hohe Wertung verdient. Dennoch bin ich froh, dass zwischen dem Lesen und dieser Rezension etwa zwei Wochen lagen, in denen ich Zeit und den nötigen Abstand erhielt, diese gefühlvolle Geschichte objektiv zu betrachten. Je länger ich das Buch gedanklich sezierte, desto deutlicher wurde, dass mich aller Betroffenheit zum Trotz irgendetwas störte. Ich musste tief in mich gehen, um herauszufinden, über welche Kante ich immer wieder stolperte. Mein Problem mit „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ ist folgendes: ich sollte heulen. Ich hatte keine andere Wahl, als Mitleid mit Phoebe und April zu haben und Wut für ihre Eltern zu empfinden. Ich fühle mich von Lilly Lindner emotional manipuliert. Das Buch drückt absichtlich und wenig subtil auf die Tränendrüse. Es gestand mir sehr wenig Raum für eigene Gedanken und Gefühle zu; stattdessen habe ich vermutlich genau und ausschließlich das empfunden, was Lilly Linder von mir erwartete. Ich fühlte mich seelisch in eine Ecke gedrängt, als würde mich Lindner zwingen, so und nicht anders zu empfinden. Meines Erachtens nach hat sie deswegen auch darauf verzichtet, die hässliche, psychische Fratze der Anorexia nervosa zu zeigen. All der Zorn und die Zerrissenheit, die ich von einem magersüchtigen Teenager erwarten würde, fehlen April. Da ist kein Selbsthass, kein Selbstekel, keine einzige Empfindung, die für Leser_innen potentiell unverständlich sein könnten, sodass die Sympathie für sie ungetrübt bleibt. Ich verstehe zwar, warum es Lindner wichtig war, dass April in einem positiven Licht erscheint, doch ich fand das Bild des armen, missverstandenen, lieben Mädchens ohne Fehl und Tadel etwas einseitig und nicht völlig glaubhaft.

 

„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ habe ich auf verschiedenen Ebenen meines Ichs unterschiedlich wahrgenommen. Emotional war dieses Buch ungeheuer verstörend; intellektuell fielen mir ein paar kleine Makel auf. Trotz dessen ist es für mich nicht im Geringsten schwierig, eine Bewertung festzulegen, denn die Gefühlsebene ist der objektiven, analytischen Ebene gegenüber immer dominant. Wenn mich ein Buch so zum Weinen bringt wie dieses, muss sich das einfach in der Anzahl der Sterne niederschlagen.
Solltet ihr mit dem Gedanken spielen, „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ zu lesen, muss euch klar sein, dass das kein Spaziergang wird. Es wird weh tun. Es wird euch aber auch eine Krankheit näherbringen, die bis heute stigmatisiert und tabuisiert wird.
Ich für meinen Teil nehme aus diesem Buch vor allem eines mit: tiefe Dankbarkeit für meine wundervolle, unterstützende Familie.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/12/23/lilly-linder-was-fehlt-wenn-ich-verschwunden-bin
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review 2015-04-01 09:46
Dieses Buch überwindet die Grenzen der Fiktion
My Sister My Love - Joyce Carol Oates

Meine überschwängliche Begeisterung für die Autorin Joyce Carol Oates war möglicherweise vorher bestimmt. Ich fand nämlich heraus, dass wir am gleichen Tag Geburtstag haben, obwohl die Grand Dame des psychologischen Realismus natürlich wesentlich älter ist als ich. Vielleicht ist es nur mein närrischer Aberglaube, dass ich an eine schicksalhafte Verbindung glauben möchte, aber vielleicht auch nicht. „My Sister, My Love“ ist mein zweiter Roman aus ihrer Feder und wie bereits „Blonde“ beruht er auf Tatsachen. Oates ließ sich vom mysteriösen Mord an der 6-jährigen JonBenét Ramsey inspirieren. Deswegen ist es mir wichtig, zu betonen, dass sich diese Rezension ausschließlich auf ihre literarische Interpretation bezieht. Meine Meinung über die fiktiven Charaktere steht in keinerlei Zusammenhang mit den realen Persönlichkeiten.

 

„My Sister, My Love“ ist die Geschichte von Skyler Rampike. Und es ist die Geschichte seiner kleinen Schwester Bliss. Bliss, die mit dem Namen Edna Louise zur Welt kam und im Alter von 4 Jahren zum Wunderkind des Eiskunstlaufes wurde. Es ist die Geschichte einer Tragödie, die bereits begann, lange bevor Bliss kurz vor ihrem siebten Geburtstag ermordet wurde. Ehrlich und ungeschönt berichtet Skyler von seiner dysfunktionalen Familie, seinem Leben im tiefen Schatten seiner Schwester und dem Mordfall, der die Fassade der Perfektion zerstörte und eine endlose Kette von Anschuldigungen und Verdächtigungen nach sich zog. Erneut durchlebt er die schmerzhaften Erinnerungen, die Ungewissheit und das unerträgliche Gefühl der Schuld, um Bliss‘ wahre Geschichte offen zu legen und endlich eine Antwort auf die Frage zu finden, die ihn seit diesem verhängnisvollen Tag quält: wer hat Bliss getötet?

 

„My Sister, My Love“ erzeugte in mir eine unfassbare emotionale Resonanz. Intellektuell ist mir bewusst, dass ich nicht Skyler lauschte, sondern Joyce Carol Oates. Doch weil sie ihm ihre Stimme lieh, ist es für mich fast unmöglich, ihn nicht als eigenständige Persönlichkeit zu begreifen. Ich vergaß während des Lesens immer wieder, dass Oates‘ Figuren eben nur das sind: fiktiv. Skyler wurde für mich zu einer lebendigen Instanz, dessen Humor das einzige war, das mich davon abhielt, wahre Sturzbäche von Tränen zu vergießen. Dieser zynische, bittere, zutiefst traumatisierte junge Mann brachte mich zum Schmunzeln, obwohl an seiner Geschichte rein gar nichts zum Lachen ist. Er schreibt chaotisch, ungeordnet, teilweise unzusammenhängend – gerade dadurch wirkte sein Manifest für mich authentisch. Jedes Wort habe ich ihm geglaubt.
10 Jahre sind seit dem Mord an Bliss vergangen, doch für Skyler sind die Ereignisse noch immer präsent. Wie könnten sie auch nicht, nach all den furchtbaren Dingen, die ihm und seiner kleinen Schwester angetan wurden, von den Personen, die sie eigentlich bedingungslos lieben sollten: ihren Eltern. Betsey und Bix Rampike gehören zu der Sorte Menschen, die keine Kinder bekommen sollten und zumindest Betsey war auch noch gar nicht bereit dazu, Mutter zu werden. Ihre Kinder sind nur ein weiteres Statussymbol, die sie nicht ihrer selbst willen liebt, sondern nur aufgrund ihres Nutzens für ihre egoistischen, verdrehten Pläne. Sie ist völlig abhängig von der Meinung anderer über sie und erwartet von ihren Kindern das Gleiche. Niemals werden Skyler und Bliss nach ihren Wünschen oder Gefühlen gefragt, stattdessen perfektionieren beide Elternteile die Strategie der emotionalen Erpressung, die letztendlich in emotionalem Missbrauch gipfelt. Sie WOLLEN nicht sehen, wie sehr beide Kinder leiden, denn das widerspräche ja ihrem eigenen krankhaften Ehrgeiz.
Kennt ihr das Wort „Eislaufmutter“? Betsey Rampike definiert diesen Ausdruck völlig neu. Sie pusht Bliss‘ Karriere auf dem Eis skrupellos und ohne Rücksicht auf Verluste. Sie scheut nicht einmal davor zurück, den Namen ihrer kleinen Tochter von Edna Louise in Bliss ändern zu lassen. Ihr müsst euch vergegenwärtigen, was das für ein so junges Kind bedeutet: für Edna Louise muss es sich angefühlt haben, als hätte ihre eigene Mutter ihre Identität gestohlen und mit dieser leeren Hülle namens „Bliss“ ersetzt, die nur dann vollwertig war, wenn sie Erfolg, Bewunderung und Applaus erfuhr. Skylers Gefühle für seine jüngere Schwester sind durch Betseys Fixierung unglaublich kompliziert. Ja, er liebt sie, doch schon von ihrer Geburt an empfand er Edna Louise als Eindringling. Als sie zum Wunderkind Bliss wird, wird es noch schwieriger, weil er sich neben ihr unsichtbar und unbedeutend fühlt. Es wäre Betseys und Bix‘ Aufgabe gewesen, Skylers widersprüchlichen Gefühlen entgegen zu wirken und ihm Liebe und Wertschätzung zu vermitteln. In diesem Punkt versagten beide kolossal. Während Betsey schlicht kein Interesse an ihrem Sohn hat, glänzt Bix hauptsächlich durch Abwesenheit. Er ist das Paradebeispiel eines gleichgültigen Vaters; unfähig, seine Kinder zu beschützen.
Nach Bliss‘ Tod beginnt Betsey, durch Talkshows zu tingeln und die Geschichte ihrer ermordeten Tochter zu vermarkten. Sie nutzt die Tragödie ihres Lebens als Sprungbrett, während Skyler verloren, verstört und allein von einer Klinik in die nächste geschoben wird. Es gibt eine Szene, in der Skyler einen dieser Auftritte seiner Mutter im Fernsehen sieht. Für mich war das einer der schlimmsten Momente im ganzen Buch. Ich wurde so wütend, dass ich Betsey eine Backpfeife verpassen wollte, die so heftig wäre, dass sich mein flammend roter Handabdruck deutlich auf ihrem Gesicht abzeichnete. Es war eine wahnsinnig intensive Fantasie, weil ich einfach nicht fassen konnte, wie eine Mutter sich so egoistisch verhalten kann und fleißig an ihrer eigenen Karriere feilt, während sie sich eigentlich um ihren traumatisierten Sohn kümmern sollte.

 

Ich muss diese Rezension an dieser Stelle abbrechen. Es geht einfach nicht mehr. Ich werde schon wieder wütend und so unglaublich traurig. Betsey Rampike ist die widerlichste, abstoßendste literarische Figur, die mir jemals untergekommen ist. Skyler und Bliss… Gott, ich hoffe inständig, das Leben ihrer realen Vorbilder war nicht genauso. Wisst ihr, nach all dem Schmerz, den ich gemeinsam mit Skyler durchlebt habe, dachte ich eigentlich, es könnte nicht mehr schlimmer kommen. Doch am Ende hat mich Joyce Carol Oates noch einmal eiskalt erwischt. Mir war es das Buch über nicht klar. Ich habe es erst am Ende begriffen. Ein Teil von Skyler glaubte all die Jahre, er hätte Bliss getötet.
Wer sich auf „My Sister, My Love“ einlässt, muss sich bewusst sein, dass dieses Buch auf eine Art und Weise emotional und tragisch ist, die die Grenzen der Fiktion überwindet. Es ist nicht kitschig, voyeuristisch oder übertrieben – Joyce Carol Oates zeigt nur, wozu Menschen fähig sind und wie viel Schmerz wir selbst denjenigen zufügen können, die uns am nächsten stehen. Gebrochene Knochen heilen, aber eine zerstörte Psyche erholt sich unter Umständen nie mehr. Skyler, ich weiß, du existierst nicht. Trotzdem wirst du für immer einen Platz in meinem Herzen haben und deswegen möchte ich dir folgendes sagen: du bist wertvoll. Du bist es wert, geliebt zu werden. Was deine Eltern dir angetan haben, war Unrecht.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/04/01/joyce-carol-oates-my-sister-my-love
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