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review 2019-07-02 11:26
Der einzigartige Geschmack von Schießpulver, Magie und Heldenmut
Wrath of Empire - Brian McClellan

Nicht nur Leser_innen fällt es am Ende einer Reihe manchmal schwer, sich zu verabschieden, sondern auch Autor_innen. Brian McClellan gestand in einem Interview, dass ihm der Übergang von der „Powder Mage“-Trilogie zu seinem neuen Dreiteiler „Gods of Blood and Powder“ Probleme bereitete, weil er keine Ahnung hatte, wohin die Geschichte führen sollte. Er schrieb eine komplette erste Variante des Auftakts „Sins of Empire“, die überhaupt nicht funktionierte. Er begann noch einmal von vorn, kürzte diesen ersten Entwurf auf ein einziges Kapitel zusammen, überarbeitete den grundlegenden Konflikt – und plötzlich klickte es. Er hatte seinen Groove gefunden. Mich würde ja interessieren, um welches Kapitel es sich handelt und ob einige seiner ursprünglichen Ideen ihren Weg vielleicht in den zweiten Band „Wrath of Empire“ fanden.

 

Die Invasion der Dynize traf das gespaltene Fatrasta vollkommen unvorbereitet. Lady Vlora Flint und ihre Riflejacks verteidigten die Hauptstadt Landfall solange wie möglich, wurden jedoch von der überlegenen Truppenstärke der Dynize überrannt. Nun begleiten sie tausende Flüchtlinge, die alles verloren. Vlora fühlt sich für sie verantwortlich, obwohl ihrer Söldnerkompanie eine prekäre Mission bevorsteht: sie müssen die verschollenen Göttersteine aufspüren und zerstören, bevor die Dynize ihren verstorbenen Gott wiederauferstehen lassen können. Schweren Herzens überlässt Vlora die Flüchtlinge der Obhut von Fatrastas Militär und teilt ihre Truppen auf. Ben Styke wird die Kavallerie an die Westküste führen, wo sich einer der Steine befinden soll. Der andere liegt angeblich in den Bergen – diesen wird Vlora selbst suchen. Ein mörderisches Wettrennen beginnt.
Währenddessen soll Michel Brevis in Landfall einen riskanten Auftrag erfüllen: er soll eine Kontaktperson aus der Stadt schmuggeln. Umgeben von Feinden wird er tief in die komplexe Politik der Dynize hineingezogen. Kann er die Invasoren von innen sabotieren, ohne seine Tarnung zu gefährden?

 

In der Rezension zu „Sins of Empire“ schrieb ich, dass die Trilogie „Gods of Blood and Powder“ einem Topf gleicht, der kurz vorm Überkochen steht. Nun ist es passiert. Mit dem zweiten Band „Wrath of Empire“ eskaliert die Lage in der jungen Nation Fatrasta – und was bin ich froh darüber! Diese Fortsetzung ist spannend, intelligent und nervenaufreibend bis zur letzten Seite, denn der Autor Brian McClellan spitzt die Konflikte, die er im ersten Band etablierte, dramatisch zu und inszeniert ein vielschichtiges Kräftemessen zwischen Invasoren und Besetzten. Übermenschliche Attentäter_innen, unheimliche Blutmagie, Spionage, militärische Hinterhalte und klassische Schlachtszenen verbinden sich zu einem explosiven Gemisch, das mir schier den Atem raubte und mich an die Lektüre fesselte. Ich freute mich bereits in „Sins of Empire“ über McClellans kreatives Worldbuilding, aber erst jetzt weiß ich Fatrasta richtig zu schätzen. Das Land wirkt selbst beinahe wie eine Hauptfigur, denn die Geschichte ist so eng mit dessen komplexer Historie verbunden, die so essenziell für die inhaltlichen Entwicklungen ist, dass ich Fatrasta nicht nur als rahmengebendes Setting wahrnehme. Es ist ein äußerst lebendiger Schauplatz mit echter Persönlichkeit und steht den menschlichen Protagonst_innen somit in nichts nach. McClellan behält seine perspektivische Dreiteilung bei und schildert die Ereignisse abwechselnd aus der Sicht von Vlora, Styke und Michel. Letzterer konnte mich endlich für sich gewinnen. Es tut mir leid, wie gewaltig ich ihn sowohl als Individuum als auch hinsichtlich der Bedeutsamkeit seiner Rolle unterschätzte. Mittlerweile glaube ich, der Doppelagent ist die Schlüsselfigur der Trilogie. Ich bewundere, wie mutig er allein größten Gefahren trotzt. In „Wrath of Empire“ begibt er sich mitten in die Höhle des Löwen und kann sich lediglich auf die Schärfe seines Verstandes verlassen. Er hat keine Freunde, keine Kampfgefährten, niemanden, dem er vertrauen kann und muss in den riskanten Gewässern der Politik der Dynize navigieren, ohne sich einen Fehltritt erlauben zu können. Daher sind seine Erlebnisse nicht nur aufregend, sondern auch eine elegante Methode, Leser_innen die Gesellschaft und Kultur der Invasoren näherzubringen. Ich erhielt eine Ahnung davon, wie die Magie der Dynize funktioniert, erfuhr schockierende Neuigkeiten über eine wohlbekannte Figur, deren Wurzeln in der „Powder Mage“-Trilogie im Dunkeln lagen und begriff, wie gravierend die Bedrohung ist, die von den Göttersteinen ausgeht, die besonders die ehemaligen Soldat_innen Adros das Fürchten lehrt. Obwohl sie eine würdige Erbin ist, vermisste ich in Vloras Nähe Feldmarschall Tamas. Nicht, weil „Wrath of Empire“ etwas fehlen würde, einfach als Freund. Umso mehr berührt es mich, dass McClellan sein Andenken in „Gods of Blood and Powder“ bewahrt. Ich glaube, es hätte ihn stolz gemacht, wie selbstlos und aufopferungsvoll Vlora, Styke und Michel für ein unterdrücktes Volk kämpfen.

 

Brian McClellan hat es wirklich drauf. „Wrath of Empire“ ist eine hervorragende Fortsetzung, die die Handlung der „Gods of Blood and Powder“-Trilogie beschleunigt, verschärft und dennoch ausreichend inhaltlichen Spielraum für das große Finale „Blood of Empire“ lässt, das im Dezember 2019 erscheinen soll. Ich habe es vorbestellt, denn nach der Lektüre des zweiten Bandes kann ich es kaum erwarten, dass es weitergeht. „Wrath of Empire“ fachte meinen Appetit auf weitere Abenteuer in Fatrasta gehörig an. Auf meiner Zunge liegt noch immer dieser einzigartige Geschmack von Schießpulver, Magie und Heldenmut, der so charakteristisch für das „Powder Mage“-Universum ist und niemals Langeweile aufkommen lässt. Ich möchte an Vloras Seite Musketenfeuer lauschen, mit Ben Styke im gestreckten Galopp reiten und Michel unterstützen, politische Intrigen auszuhecken. Auf geht’s meine Freunde, jagen wir die Dynize zum Teufel!

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/07/02/brian-mcclellan-wrath-of-empire
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text 2019-05-08 10:11
Gegen Vergewaltigungsmythen & Victim Blaming
All the Rage - Courtney Summers

Die kanadische Young Adult – Autorin Courtney Summers ist dafür bekannt, über schwierige Protagonistinnen zu schreiben, die schwierige Erlebnisse verarbeiten. Ihre Hauptfiguren werden eingangs oft als unsympathisch eingeschätzt. Das ist kein Zufall. Summers bemüht sich, realistische weibliche Charaktere zu konstruieren, die die gesellschaftliche Auffassung in Frage stellen, Mädchen müssten stets nett und liebenswürdig sein, um Empathie und Aufmerksamkeit zu verdienen. Sie zeigt bewusst komplexe Persönlichkeiten, keine Stereotypen und das schließt eben auch unangenehme Facetten ein. Mit „All the Rage“ übt Summers Kritik an der Rape Culture, die junge Frauen viel zu oft allein lässt.

 

Rote Lippen, rote Nägel. Ein Markenzeichen. Eine Rüstung, hinter der sich Romy Grey versteckt, weil ihr niemand glauben wollte. Seit sie öffentlich bezeugte, was ihr der Sohn der Sheriffs Kellan Turner antat, ist sie in der Kleinstadt Grebe als Lügnerin und Flittchen verschrien. Alle hassen sie, ihre Freunde wandten sich ab. Verletzt, zornig und der ständigen Beleidigungen müde ist ihr einziger Lichtblick ihr Job in einem kleinen Diner außerhalb des Orts. Hier kennt sie niemand, hier kann sie atmen. Doch eines Abends sitzt Penny an einem ihrer Tische – ihre ehemals beste Freundin, die sie zu dem Date überredete, das ihr Leben ruinierte. Die sie fallen ließ. Romy traut ihren Ohren kaum, als Penny ihr vorschlägt, Kellan anzuzeigen. Angeblich belästigte er auch andere Mädchen. Romy ist unfähig, zu reagieren. Einen Tag später wird Penny vermisst. Romy ahnt, dass ihr etwas Furchtbares zugestoßen ist. Sie muss sich entscheiden: wird sie schweigen oder wird sie kämpfen für all die jungen Frauen, die die Gesellschaft im Stich lässt?

 

Die aktuelle #metoo-Debatte, die leider schon wieder an Momentum einbüßt, entlarvte unseren schockierend ignoranten Umgang mit sexualisierter Gewalt. Im Kontext der Diskussion wurden äußerst hässliche Aussagen getätigt, die zeigen, dass Victim Blaming und Vergewaltigungsmythen noch immer reflexartige Reaktionen sind. Vielleicht sollten diese Menschen, die Überzeugungen wie „Sie wollte es“ vertreten, „All the Rage“ von Courtney Summers lesen. Dieser bestürzend realistische Young Adult – Roman beschreibt einen Albtraum, der tragischerweise für jede Frau Wirklichkeit werden könnte: die Protagonistin Romy überlebt eine Vergewaltigung, findet den Mut, öffentlich darüber zu sprechen und wird als Lügnerin abgestempelt. Niemand glaubt ihr, außer ihren Eltern. Stattdessen wird sie in ihrer Kleinstadt Grebe geächtet, gedemütigt und drangsaliert, weil niemand wahrhaben möchte, dass der Täter, der Sohn des Sheriffs, fähig wäre, sich so zu verhalten. Das Kleinstadt-Setting potenziert Romys fatale Situation, denn in einem Ort, in dem sich alle seit Generationen kennen, erreicht die harsche Verurteilung, die Romy erfährt, ein destruktives, unnachgiebiges Niveau, das in einer Großstadt vermutlich nicht möglich wäre. Ich war schockiert, wie vorstellbar bösartig vor allem Romys ehemalige Freunde mit ihr umgehen. Die Affäre entwickelt eine giftige Eigendynamik; die Grenzen des Akzeptablen mutieren unkontrolliert, bis wahrscheinlich niemand mehr nachvollziehen kann, wann es okay wurde, Romy so grausam zu behandeln. Folglich muss die Ich-Erzählerin nicht nur das Trauma ihrer Vergewaltigung verarbeiten, sondern auch die brutalen Mobbingattacken ihrer Peiniger_innen. Courtney Summers spielt mit der Chronologie von „All the Rage“, um Romys Kampf mit vergangenen und gegenwärtigen Erlebnissen zu unterstreichen. Faktische zeitliche Abläufe sind weniger relevant als ihre subjektive Wahrnehmung, in der natürlich besonders der unverzeihliche Übergriff dauerhaft präsent ist. Gleiches gilt für den Täter, der zwar nicht persönlich in Erscheinung tritt, aber als Schatten im Hintergrund Romys Handlungen beeinflusst. Dennoch lässt sie nicht zu, dass er oder seine Tat sie definieren. Ich fand Romy bewundernswert stark und überhaupt nicht unsympathisch. Selbstverständlich ist sie verstört, beschämt und unsagbar zornig. In ihr kocht eine explosive Mischung schmutziger Gedanken und Gefühle. Wer kann es ihr verübeln? Sie verabscheut die Opferrolle, in die sie gedrängt wird und entwirft einige teils sehr ungesunde Bewältigungsmechanismen, doch ich hatte stets das Gefühl, dass sie sich mit eisernem Griff und purer Willenskraft an ihrer Identität festklammert. Romy ist immer noch Romy. Verändert haben sich alle anderen, die sie angreifen, beleidigen und fertigmachen. Sie ist bereit, sich ihren seelischen Wunden zu stellen und neue Verletzungen in Kauf zu nehmen – zuerst für Penny, die ihre Sorge eigentlich nicht einmal verdient, später allerdings ebenso für alle anderen Frauen, denen sie ähnlichen Kummer eventuell ersparen kann.

 

Die Tatsache, dass sich Vergewaltigungsmythen und Victim Blaming in unserer Gesellschaft noch immer halten, ist ein Armutszeugnis. Es macht mich stinkwütend. Ich bin es leid, unqualifizierte Meinungen zu hören oder zu lesen, die die verabscheuungswürdige Realität einer Vergewaltigung verkennen. Niemand möchte vergewaltigt werden. Niemals. Es geht dabei nicht um Lustgewinn. Es geht um Macht und Dominanz. Deshalb spricht man von sexualisierter Gewalt. Die Betroffenen erfahren ein Trauma, das sie zwingt, die Scherben ihrer Persönlichkeit aufzukehren und neu zusammenzusetzen. Bücher wie „All the Rage“ von Courtney Summers sind ein kleiner Hoffnungsschimmer in dem widerwärtigen Dickicht falscher Annahmen und Beschuldigungen. Die Autorin rüttelt auf, indem sie einfach die Wahrheit in all ihrer hässlichen Pracht zeigt. Das mag unbequem sein und einige Leser_innen unangenehm treffen, aber ganz offensichtlich ist es notwendig. Es wird Zeit, dass wir aufwachen und endlich begreifen, dass eine Vergewaltigung kein Kavaliersdelikt ist. Es ist ein Verbrechen – und manchmal vielleicht schlimmer als Mord.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/05/08/courtney-summers-all-the-rage
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review 2019-03-12 09:40
Eine Welt der Stille
Der Finder: Endzeit Thriller - Michael Schreckenberg

Deutsche Autor_innen zu recherchieren ist oft eine ermüdende Angelegenheit. Die schreibende Zunft unseres Landes scheint schüchtern zu sein: Websites sind schlicht und professionell gehalten, Wikipedia-Artikel enthalten kaum mehr als die Randdaten. Um etwas über die Persönlichkeit des Autors oder der Autorin herauszufinden, muss man mühsam mit der Lupe suchen. Nicht so Michael Schreckenberg. Der Autor des postapokalyptischen Romans „Der Finder“ ist freigiebig mit seinen Gedanken. Er führt einen Blog namens schreckenbergschreibt, in dem er über alles fachsimpelt, was ihn beschäftigt – häufig politische und gesellschaftliche Themen. Ich finde das großartig. Nicht nur schwingen wir in unseren Überzeugungen voll auf einer Wellenlänge, ich verstehe jetzt auch viel besser, wieso „Der Finder“ so und nicht anders genau diese Geschichte erzählt. Weiter so, Herr Schreckenberg! Die ganzen Likes sind übrigens von mir. ;-)

 

Zuerst bemerken sie die Stille. Die gespenstische Abwesenheit menschlicher Geräusche. Dann begreifen ihre Augen, was ihre Ohren längst wissen: sie sind allein. Alle Menschen sind verschwunden. Ganz plötzlich, von heute auf morgen. Nur eine kleine Gruppe Hinterbliebener sammelt sich in Leverkusen. Sie sind keine Fremden. Sie kennen einander seit vielen Jahren. Sie entscheiden, zu überleben. Sie verlassen die Städte, ziehen ins Bergische Land und errichten eine neue, einfachere Zivilisation. Alle bringen sich ein, leisten, was sie können. Daniel ist der Finder ihrer Gemeinschaft. Es ist seine Aufgabe, zu finden, was übrigblieb. Nützliche Gegenstände, kleine Hoffnungsträger, andere Überlebende. Antworten. Doch seine einsamen Reisen sind nicht ungefährlich. Nacht für Nacht erwacht tief im Wald ein unsichtbares Übel mit bestialischem Geheul. Und es kommt näher…

 

Wodurch zeichnet sich eine hervorragende Postapokalypse aus? Meiner Meinung nach muss ein solches Buch mehr leisten, als eine packende Geschichte zu erzählen und eine beklemmende Zukunftsvision zu präsentieren. Es muss die Köpfe der Leser_innen füllen. In einem solchen Buch bin ich keine Beobachterin, sondern Teil der Geschichte. „Der Finder“ von Michael Schreckenberg ist eines jener seltenen Einhörner. Ich fand es grandios. Während der Lektüre war ich mental nicht mehr in der Realität verankert, ich unternahm eine Reise in Schreckenbergs menschenleere Welt. Wann immer ich gezwungen war, in die Wirklichkeit zurückzukehren, hatte ich Schwierigkeiten, mich zu orientieren und zu akklimatisieren. Dieser Roman ist ein echter Pageturner, der Fantasie und Vorstellungskraft kräftig ankurbelt, ohne die gängigen Klischees des Genres zu bedienen. Michael Schreckenberg macht vieles anders als seine Kolleg_innen und dafür applaudiere ich ihm euphorisch. „Der Finder“ spielt in Deutschland, was ich allein schon als erfrischende Abwechslung empfand. Vor allem beeindruckte mich jedoch die Taktung der Geschichte. „Der Finder“ braucht keine lange Einführung. Bereits auf Seite 40 ist die Situation klar und die Gruppe um den Ich-Erzähler Daniel verlässt Leverkusen. Da wird nicht lange diskutiert, es ist logisch, den Gefahren der verlassenen Städte (z.B. Brände) zu entkommen, nur mitzunehmen, was unbedingt notwendig ist und bereits abzustecken, wer welche Fähigkeiten mitbringt. Ihre pragmatische Herangehensweise inspirierte mich. Ich fragte mich, inwiefern ich der Gemeinschaft nutzen könnte, übte beinahe ein leidenschaftliches Plädoyer für meine Hündin ein. Keine 10 Seiten weiter sind die Siedler in ihrem zukünftigen Heim angekommen und beginnen sofort mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft. Trotz dieses zügigen Tempos erschien mir die Handlung keineswegs hektisch, sondern ruhig und ausgeglichen, ein Effekt, den ich Daniel zurechne. Daniel ist ein äußerst angenehmer Protagonist, dessen bedachte Ausstrahlung die Atmosphäre maßgeblich beeinflusst. Er schildert selbst große Gefühle sachlich und nüchtern. Dadurch konnte Schreckenberg sich auf die Ereignisebene konzentrieren und die emotionale Ebene zurückhaltend ausarbeiten, was mir wiederum viel Spielraum für eigene Gefühle bot. Drama nimmt in „Der Finder“ allerdings ohnehin einen untergeordneten Stellenwert ein. Die Siedlergemeinschaft zeichnet sich durch außerordentliche Harmonie aus. Selbstverständlich treten durch das erzwungene Zusammenleben Konflikte auf, aber Verrat, Intrigen und Machtkämpfe sind ihnen fremd. Alle versuchen einfach, sich entsprechend ihrer Möglichkeiten einzubringen. Ihre gleichberechtigte, kommunistisch anmutende Gesellschaft entwickelt sich völlig natürlich und friedlich, weil sich niemand egoistisch verhält. Negative Impulse kommen fast ausschließlich von außen. Passend dazu verzichtet Schreckenberg auf die billigen Spezialeffekte übertrieben actionlastiger Szenen und baut Spannung stattdessen über die zunehmende Bedrohung durch eine mysteriöse Lebensform auf, die die Siedler „Heuler“ nennen. Diese hält er bis kurz vor Schluss aufrecht – bis er erläutert, was es mit den Heulern auf sich hat und was mit all den Menschen geschah, die verschwanden. Zweifellos konzipierte er ein abgefahrenes Szenario – aber wieso sollte das eigentlich nicht plausibel oder akzeptabel sein? Für mich war es das.

 

„Der Finder“ ist ein rundum gelungenes Buch, dessen spezielle Wirkung mich begeisterte. Es ist eine der besten Postapokalypsen, die ich je gelesen habe. Ein kleiner patriotischer Teil in mir jubelt darüber, dass Deutschland noch immer bemerkenswerte Dichter und Denker im Format eines Michael Schreckenberg hervorbringt. Ich freue mich, dass ich diesen Diamanten entdeckte und werde mir auf jeden Fall die lockere Fortsetzung „Nomaden“ besorgen. Ach, was rede ich, vermutlich werde ich alles lesen, was Schreckenberg je geschrieben hat. Euch möchte ich „Der Finder“ als besonderen Schatz vehement ans Herz legen. Es ist herausragend. Eine klare Leseempfehlung!

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/03/12/michael-schreckenberg-der-finder
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review 2019-02-05 10:45
Ich muss hellseherische Kräfte haben
Partials (Partials, #1) - Dan Wells

Dan Wells und ich haben eines gemeinsam: wir haben beide „Die Welt ohne uns“ von Alan Weisman gelesen. In meinem Fall führte die Leseerfahrung zu der Erkenntnis, dass unser Fußabdruck auf der Erde fast ausschließlich negativ wäre, würden wir plötzlich verschwinden. In Dan Wells‘ Fall beeinflusste die Lektüre das Design der Dystopie in seiner Young Adult Science-Fiction-Trilogie „Partials Sequence“. Er orientierte sich bei seiner Beschreibung einer verlassenen Welt stark an Weismans wissenschaftlichem Gedankenspiel. Das war ihm nur möglich, weil seine Zukunftsvision nicht auf physischer Zerstörung beruht, beispielsweise durch eine Bombe. In seiner Apokalypse kam die Katastrophe auf leisen Sohlen: in Form eines Virus.

 

Beinahe jeden Tag hält die 16-jährige Medizinstudentin Kira ein totgeweihtes Neugeborenes in ihren Armen. Seit die Partials vor über einem Jahrzehnt das RM-Virus freisetzten, das die Menschheit nahezu ausrottete, wurde kein einziges gesundes Baby geboren. Die meisten Säuglinge überleben nur wenige Tage. Nicht einmal verzweifelte Fortpflanzungsgesetze können das Unausweichliche aufhalten. Ohne ein Heilmittel stirbt Kiras Gemeinschaft auf Long Island langsam aus. Als ihre Ziehschwester Madison schwanger wird, hält sie ihre Hilflosigkeit nicht länger aus. Es muss eine Heilung geben. Die Forschung muss etwas übersehen haben. Um Madisons Baby zu retten, entwickelt Kira einen waghalsigen Plan. Will sie RM besiegen, braucht sie Antworten von denjenigen, die das Virus erschufen: den Partials. Sie muss eine der biomechanischen künstlichen Intelligenzen gefangen nehmen, sie befragen und untersuchen. Sie weiß, dass sie einen weiteren Krieg riskiert. Aber ist die Zukunft der Menschheit das Risiko nicht wert?

 

Ich bin schwer enttäuscht von Dan Wells. „Partials“ fehlt genau das, was mich an seiner „John Cleaver“-Reihe beeindruckt: Glaubwürdigkeit und Originalität. Peinlich, bedenkt man, dass der jugendliche Soziopath gegen übernatürliche Dämonen kämpft, während die gesamte Konzeption des YA-SciFi-Trilogieauftakts auf wissenschaftlichen Erklärungen beruht. Ich fühlte mich zu clever für das Buch und kaufte Wells entscheidende Details einfach nicht ab. Erstaunlicherweise war es jedoch nicht die Dystopie selbst, die meine Stirn in zweifelnde Falten legte. Zwar trägt der Konflikt zwischen Schöpfer und Schöpfung, verkörpert durch Menschheit und die K.I. Partials, längst einen grauen Bart, aber mir gefiel die Ergänzung des Virus RM, dessen tödliche Auswirkungen den Fortbestand der menschlichen Spezies bedrohen. Eine interessante Idee, die Wells mit gebührender Konsequenz verfolgt. Jede Facette des Lebens der 16-jährigen Protagonistin Kira wird von RM beeinflusst. Da es bisher kein Heilmittel gibt, sieht die notdürftige Regierung keine andere Möglichkeit, als junge Frauen zur Fortpflanzung zu verpflichten. In der Hoffnung, dass irgendwann ein immunes Baby geboren wird, setzen sie das Alter für eine Schwangerschaft immer weiter herunter, was natürlich nicht nur auf Zustimmung stößt. Die Gesellschaft ist gespalten und die Angst vor den Partials sitzt vor allem der älteren Bevölkerung, die sich bewusst an den Krieg erinnert, tief in den Knochen. Mit diesen Rahmenbedingungen konnte ich mich gut anfreunden. Womit ich mich hingegen nicht anfreunden konnte, war die viel zu große Rolle, die Wells seiner Protagonistin aufzwang. Als ihre Ziehschwester Madison schwanger wird, beschließt Kira, im Alleingang und in Rekordzeit das zu schaffen, was wesentlich klügeren Köpfen misslang: RM zu heilen. Nun habe ich überhaupt kein Problem mit ehrgeizigen Ambitionen – ich verstand Kiras Beweggründe und gestand ihr einen Versuch zu. Mein Problem bestand darin, dass Dan Wells in „Partials“ niemals in Frage stellt, ob es für eine 16-jährige Medizinstudentin nicht vielleicht etwas unrealistisch sein könnte, allein innerhalb weniger Wochen ein Virus zu heilen, das die Menschheit seit einem Jahrzehnt plagt. Sie mag ja ein begnadetes Talent für Virologie besitzen, aber meines Wissens nach ist die Suche nach einem Heilmittel ein Projekt, dem eine ganze Armee voll ausgebildeter Wissenschaftler_innen ihr gesamtes Leben widmen muss. Ebenso halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass vor ihr angeblich niemand die Partials untersuchen wollte, besonders angesichts des hohen kollektiven Leidensdrucks. Angst hin oder her, zu Zeiten des Krieges muss es Kriegsgefangene gegeben haben. Die Menschheit ist nicht so nobel, dass mit diesen nicht experimentiert worden wäre.  Aber klar, Kira ist die Heldin, die wagt, was außer ihr niemand wagt und hat dabei natürlich auch noch echte Chancen auf Erfolg. Logisch. Durch diesen Heldinnenstatus ist „Partials“ ermüdend vorhersehbar. Ich erinnere mich, dass ich während der Lektüre eines Abends differenziert über den weiteren Handlungsverlauf spekulierte – ich lag mit jeder Mutmaßung richtig. Entweder habe ich hellseherische Kräfte, oder das Buch ist wirklich so berechenbar.

 

Ich wünschte, „Partials“ wäre überraschender gewesen. Ich wünschte, ich hätte nicht zusehen müssen, wie exakt das eintrat, was auch in der Handlung jeder anderen beliebigen YA-Dystopie hätte passieren können. Strahlende Heldin, plakative Dramatik, Verrat, Geheimnisse, große Offenbarung, bla bla bla. Zwischendrin tanzen mal blasse Nebenfiguren über die Bühne, die sich ebenso wenig wie Kira mit der präzisen, psychologisch fundierten Charakterisierung eines John Cleaver messen können. Alles ist so… gewöhnlich. Ich habe nicht erwartet, von Dan Wells dermaßen enttäuscht zu werden. Ich habe ihm nicht zugetraut, dass er einen Roman schreiben könnte, der in diesem Maße von Stereotypen und Klischees gebeutelt ist. Ich dachte, er wäre ein Autor, auf dessen unkonventionelle Ideen ich mich verlassen könnte. Tja, da hat die Young Adult – Falle wohl zugeschnappt. Ich verzichte darauf, die „Partials Sequence“ weiterzulesen.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/02/05/dan-wells-partials
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review 2018-10-30 09:40
Löschen! Löschen! Löschen!
American Psycho - Harald Hellmann,Clara Drechsler,Bret Easton Ellis

„American Psycho“ von Bret Easton Ellis ist einer der weltweit umstrittensten Romane aller Zeiten. In Deutschland erschien das Buch 1991, 1995 setzte es die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien auf den Index. Über 5 Jahre war es nicht frei erhältlich, bis der Verlag Kiepenheuer & Witsch (KiWi) vor dem Oberverwaltungsgericht gegen die Indizierung klagte und gewann. In Australien und Neuseeland müssen Käufer_innen bis heute mindestens 18 Jahre alt sein. Ellis erhielt Morddrohungen, wurde massiv angefeindet und musste sich Misogynie und Sadismus unterstellen lassen. 27 Jahre später ist die Aufregung abgeebbt und „American Psycho“ hat seinen Weg in die Popkultur gefunden. Obwohl er ein Geschöpf der 80er Jahre ist, treffen die vom Protagonisten Patrick Bateman verkörperten gesellschaftlichen Entwicklungen den modernen Zeitgeist. Bateman ist eine Ikone, ein Halloween-Kostüm. Höchste Zeit, ihn kennenzulernen.

 

Patrick Bateman verbirgt sein wahres Gesicht nicht. Er hat es nicht nötig, sich zu verstecken. Perfekt in der belanglosen Unpersönlichkeit seiner Existenz eingerichtet frönt er seinen abscheulichen Neigungen, ohne fürchten zu müssen, entdeckt zu werden. Er mordet. Er foltert. Die dünne Fassade, die seinen Wahnsinn von seinem Leben als erfolgreicher Banker an der Wall Street trennt, reicht aus, um sein Umfeld zu täuschen. Geblendet von seinem makellosen Körper, seinem teuren Haarschnitt, seiner vollendeten Garderobe und dekadenten Restaurantbesuchen vermutet niemand, was Pat Bateman in Wahrheit ist: ein Schlächter, ein Psychopath. Niemand ahnt, dass sich mitten unter ihnen ein Monster in der Sicherheit der Anonymität eingegraben hat…

 

„American Psycho“ ist Bret Easton Ellis‘ Kritik an der kapitalistischen Wertentleerung in den USA der 80er Jahre. Der kontroverse Autor gestand lange nach der Veröffentlichung seines Skandalromans, dass dieser in vielerlei Hinsicht autobiografisch ist. Er lebte in den 80ern selbst in New York und befand sich damals in der paradoxen Situation, Teil einer Gesellschaft sein zu wollen, deren Ideale er ablehnte. Sein Protagonist Patrick Bateman personifiziert die Albtraumvorstellung seiner selbst; er ist eine Figur, mit der er sich identifizieren konnte, obwohl er sie fürchtete. Ich respektiere Ellis‘ gerechtfertigte Missbilligung und die persönliche Note, dank der „American Psycho“ entstand. Dennoch frage ich mich, ob dieses Buch in dieser Form tatsächlich nötig war. Es ist menschenverachtend, brutal, widerlich und wenn es nicht gerade Brechreiz provoziert, langweilt es und liest sich wie besonders dreistes, langatmiges Productplacement. In der unerträglichen Ich-Perspektive des reichen, attraktiven Investmentbankers Pat Bateman quälte ich mich durch seitenlange pedantische Beschreibungen materieller Güter, durch unbedeutende Essen mit austauschbaren Narzissten, durch den Alltag eines Mannes, dessen Dasein völlig von Oberflächlichkeiten bestimmt wird. Eine Handlung im herkömmlichen Sinne war für mich nicht erkennbar. Weder hat „American Psycho“ einen richtigen Anfang, noch ein befriedigendes Ende. Ich zappte auf der ersten Seite in das Leben von Pat Bateman hinein und am Schluss wieder heraus. Dazwischen litt ich sehr unter der leidenschaftslosen Monotonie seiner inkonsequenten, distanzierten Litanei und gerade, als ich dachte, schlimmer könne es nicht mehr werden, begannen die Morde. Natürlich wusste ich, dass Bateman einen Dachschaden hat. Die angespannte Aura aggressiven Wahnsinns, die ihn umgibt, war nicht zu ignorieren. Aber was ich seinetwegen zu erleben gezwungen war, werde ich ihm niemals verzeihen. Pat Bateman ist mehr als ein psychopathischer Serienmörder. Er ist ein abscheuliches Monster. Die Mord- und Folterszenen in „American Psycho“ sind das Furchtbarste, das ich jemals lesen musste. Ich wünschte, ich könnte sie aus meinem Gedächtnis löschen. Mich erschütterte nicht nur die kreative Grausamkeit des Protagonisten, mich verstörte auch Bret Easton Ellis‘ Inszenierung der gewalttätigen Abschnitte. Der Autor arbeitete mit sehr harten Kontrasten, sodass das Buch ständig zwischen einlullenden Belanglosigkeiten und explosiven Gräueltaten schwankt. Batemans Gewaltpotential durchläuft dabei eine alarmierende Abwärtsspirale, seine Verbrechen werden von Mal zu Mal dreister, intensiver und abstoßender. Es wirkte, als wollte Ellis den größtmöglichen Effekt erzielen und auch noch die letzten Leser_innen aus ihren Komfortzonen katapultieren. Er musste immer noch einen draufsetzen. Neben diesen plastischen und plakativen Schilderungen spielte es für mich beinahe keine Rolle, dass sein Protagonist ein sehr komplexer, widersprüchlicher Charakter ist, der all das symbolisiert, was in unserer Gesellschaft schiefläuft. Ich verstehe, was er darstellt. Ich begreife, dass Ellis zunehmende Anonymität, Isolation, Konsumorientierung, Maßlosigkeit und Gleichgültigkeit anprangert. Ich erkenne seine Absicht. Doch wer solche Mittel verwendet, muss sich nicht wundern, wenn die Botschaft negativ überstrahlt wird.

 

„American Psycho“ entzieht sich einem einfachen Urteil. Es ist ein Buch, das sich schwer in Worte fassen lässt. Ich weiß, dass es als moderner Klassiker gilt und kann nachvollziehen, dass Bret Easton Ellis‘ Kritik noch heute Resonanz erzeugt. Meiner Meinung nach ist der kritische Aspekt jedoch zu schwach, um die krassen Extreme zu rechtfertigen, auf die der Autor zurückgreift und das Buch als lesenswert auszuzeichnen. Ich bin nicht gewillt, eine Empfehlung auszusprechen. Ob ihr euch diese Gewaltorgie geben wollt, müsst ihr selbst entscheiden. Vielleicht wäre „Fight Club“ von Chuck Palahniuk die bessere Wahl: thematisch ähnlich, aber harmloser und bekömmlicher.
Ich werde meine Erinnerungen an „American Psycho“ jetzt jedenfalls in einer tiefen, dunklen Ecke meines Hirns wegschließen. Ich möchte nicht länger daran denken.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/10/30/bret-easton-ellis-american-psycho
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