Als ich 2014 las, dass Lauren Oliver einen Roman für Erwachsene veröffentlichen würde, stellte sich mir gar nicht erst die Frage, ob ich mir diesen zulegen würde. Selbstverständlich wollte ich „Rooms“ lesen. Oliver beschränkte sich bisher sehr erfolgreich auf das Young Adult – Genre. Ihren Einzug in die erwachsene Domäne wollte ich unter keinen Umständen verpassen. Ich war neugierig, wollte an ihr Talent glauben, bewahrte mir jedoch eine gesunde Skepsis. Ein Wechsel der Zielgruppe ist schließlich eine Herausforderung; außerdem sollte „Rooms“ darüber hinaus das erste Mal paranormale Elemente enthalten.
Coral River ist ein Geisterhaus. Erbaut aus Holz und Stein sind es in Wahrheit Erinnerungen, die es zusammenhalten. Erinnerungen an Richard Walker, der dort seine letzten Tage verbrachte, bevor er den Tod fand. Erinnerungen an Leben, die voller Kummer und Geheimnisse waren und ihre Schatten bis in die Gegenwart werfen. Coral River war nie ein Haus der Freude und als Richards entfremdete Familie – seine Exfrau Caroline und seine Kinder Minna und Trenton – nach Jahren der Trennung zurückkehrt, müssen sie sich dem Schmerz stellen, der in die Räume eingesickert ist. Doch die Walkers sind nicht allein. Alice und Sandra sind an Coral River gefesselt, sehnen sich danach, es zu verlassen. Sie leben in den Wänden und sprechen durch die Geräusche des Hauses. Denn Alice und Sandra sind Geister, dazu verdammt, niemals gehört, niemals gesehen zu werden. Und doch sind sie ein Teil der Geschichte dieser Familie; über Jahrzehnte hinweg verbunden durch Tragödien, die sich in Coral River stets zu wiederholen scheinen.
„Rooms“ ist eine Geistergeschichte. Das ist nicht zu leugnen, es wäre allerdings ignorant und töricht, dieses wundervolle Buch auf diesen einen Aspekt zu reduzieren. Meiner Ansicht nach ist es eine Geschichte des Ungesagten, des Verborgenen und möchte man es genau nehmen, enthält „Rooms“ nicht nur eine Geschichte, sondern viele. Jede einzelne ist für sich bereits unsagbar traurig, doch an ihren Berührungspunkten steigert sich die Tragik ins Herzzerreißende. Coral River ist ein Haus des Kummers, ein Haus, in dem Generationen der Tragödie ihren unverkennbaren Abdruck hinterließen. Es ist kein Ort, an dem man sich wohlfühlen kann, alles dort wirkt bedrückend und schmerzgetränkt. Es ist aber auch eine hervorragende Metapher, an der Lauren Oliver eindrucksvoll schildert, dass eine Familie im gleichen Haus wohnen kann, ohne jemals wirklich zusammenzuleben. Räume, die isolieren, statt einzuladen. Oliver übertrug die Struktur des Hauses auf die Struktur ihres Buches. Statt in Abschnitte ist es in Räume unterteilt, in denen man je Kapitel eine der Figuren begleitet. Die dadurch entstehende Atmosphäre erinnerte mich an ein Krimidinner, das dem Publikum erlaubt, den Akteuren überallhin zu folgen. Ich fand diese Herangehensweise spannend und originell, weil die Geschichte auf diese Weise eine einzigartige, bewegliche Dynamik entwickelt. Ich hatte wirklich das Gefühl, unbemerkt von den Charakteren durch die Zimmer zu wandeln und sie beobachten zu können; ein kleines, offenes Fenster in ihre Leben. Es ist sicher kein Zufall, dass ich folglich eine Position einnahm, die die Rolle der beiden Geister Alice und Sandra spiegelte. Sie sind ebenfalls Beobachterinnen, zur Untätigkeit verurteilt, während sich die einzelnen Dramen der Walkers vor ihnen entfalten. Oliver gesteht ihnen eine Sonderstellung zu, hebt sie stilistisch ab, indem sie die Kapitel der beiden verstorbenen Frauen aus der Ich-Perspektive schrieb, für die Kapitel der Walkers jedoch die personale Erzählweise wählte. Meiner Meinung nach fiel diese Entscheidung, um die Bindung der Leser_innen bewusst zu steuern. Ich sollte mich Alice und Sandra näher fühlen als Caroline, Minna und Trenton. Ich sollte mich in ihre Lage versetzen; verstehen, wie sie die Familie, mit der sie ein Haus teilen, sehen und von dem Blickwinkel von außen profitieren, um die Beziehungen der einzelnen Mitglieder zueinander zu begreifen. Für mich funktionierte diese spezielle Strategie tadellos. Ich erreichte eine Verständnisebene, die mir bei größerer Nähe verwehrt geblieben wäre. Ich konnte deutlich sehen, dass alle Fäden in der Familie den gleichen Knotenpunkt besitzen: Richard Walker. Der Patriarch trug großen Anteil daran, dass die Walkers auseinanderdrifteten, doch er ist auch der gemeinsame Nenner, der sie wieder zusammenbringt. Seine Enttäuschungen und Verletzungen verbinden sie. Ihr Schmerz verbindet sie und lässt sie Wahrheiten offenbaren, die sie jahrzehntelang in sich begruben und sogar vor sich selbst versteckten. Trotz seines Todes ist er eine feste Präsenz in der Geschichte und macht seiner Familie ein letztes, unbezahlbares Geschenk: er schenkt ihnen Hoffnung und den zarten Willen, die Gräben zwischen ihnen zu überwinden.
Lauren Oliver hat den Wechsel ihrer Zielgruppe spielend bewältigt. Sie kann definitiv für Erwachsene schreiben. „Rooms“ ist meiner Empfindung nach ein stilistisches Meisterwerk, das psychologisch dicht und glaubhaft zeigt, dass eine Familie an allzu vielen Geheimnissen zerbrechen kann, es jedoch nie zu spät ist, die Vergangenheit ruhen zu lassen und einen Neuanfang zu wagen. Ihr ruhiger, unaufgeregter Schreibstil passt vortrefflich zu den zahllosen Dramen, die sich in Coral River abspielen. Die Entscheidung, eine Geistergeschichte zu schreiben, erscheint mir nach dem Lesen vollkommen naheliegend, denn Oliver arbeitete das paranormale Element überzeugend und natürlich als Rückgrat ein.
Ich finde „Rooms“ absolut empfehlenswert, denn es ist nicht nur ein stilistisches Highlight, es ist auch berührend und entwickelt eine beeindruckende emotionale Sogwirkung. Reist nach Coral River, lernt die Walkers und ihre geisterhaften Mitbewohnerinnen kennen und seht, dass auch die schwärzeste und schmerzhafteste Tragödie die Liebe einer Familie nicht auslöschen kann.