Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man durch Gedichte zu verstehen versucht, was andere Menschen vor 50, 100 Jahren am gleichen Ort, wo du heute lebst...also in Breslau, dachten, fühlten, gesehen haben... So ist es vor allem bei Gedichten, die zwar keine natürliche Erzählensweise darstellen, doch fast immer sehr persönlich sind. Bei der Auswahl der Zeilen von Käthe Kleinert ist das besonders deutlich, denn sie schrieb meistens in ruhigen Momenten der Nachdacht, wenn man irgendwo alleine am Abend saß, anderseits aber auch aus gesellschaftlichen, sich wiederholenden Anlässen, wie das Neujahr, Geburtstage oder sogar über so alltägliche Sachen, wie Kauf eines Ölofens. Man kann auch einiges von ihrem persönlichen Leben zwischen den Zeilen erfahren. Die Gedichte in dieser Auwahl umfassen 60 Jahre ihres langen Lebens (das erste datierte 1925, das letzte 1983), und sie schrieb bis in den hohen Alter. Die Verse im Band sind nicht chronologisch zu lesen, sondern vom Herausgeber gewählt, wurden in 5 Themen gruppiert: 1. Heimat und Fremde, 2. Stille und Sehnsucht, 3. Jahres- und Festzeiten, 4. Schnurren und Weisheiten, 5. Abschied und Heimgang. Am schönsten fand ich die ersten, die über die Heimat erzählen oder die Sehnsucht nach ihr beschreiben (es scheint, dass sie schon im Alter von 23 Jahren, im Jahr 1925, Breslau verlassen hat). Sie sind ziemlich kunstvoll, sehr knapp, aber bildgewaltig. Wie diese Worte über einem Sonnenuntergang Und in gewalt'gem Zuge, Wie eine Schlußfuge, Schleudert der Sonne sinkende Kraft Feuergarben, und damit rafft Sie die ganze Weite ein In güldenen Abendschein. Breslau, Sonnenuntergang am Schwarzwasser Oderdamm bei Wilhelmsruh, ca. 1936 Bei anderen Themen, greift sie oft zum Humor, die Zeilen werden auch üppiger. Sehr treffend und gleichzeitig witzig fand ich den Text über zeitgenössiche Kunst, der bereits aus dem Distanz des 70-jährigen Lebens geschrieben wurde und auch heute, so denke ich, seine Gültigkeit behält: Oh, arme Kunst! Das Dichten ist heut gar nicht schwer, Denn Form und Sinn braucht es nicht mehr - Ja, einstens hielt man auf Nievau, Heut sagt man spottend: 's geht auch so ! Nur wer den größten Blödsinn macht, Kommt für die Presse in Betracht, Und was kein Sterblicher kapiert, Wird von ihr bestens honoriert. Vereinzelt noch, verkalkte Sonderlinge, Sie wissen um den Erst der Dinge Und fragen sich - ehrlich bedrückt, Sind denn die Menschen ganz verrückt? Sie möchten rufen, warnen, mahnen, "Verspielt es nicht, das Geistesgut der Ahnen: Wenn ihrer Sprache edle Kunst Ihr heut verspottet und verhunzt, Bekennt ihr euch - so sagt es nur: Zum Nihilismus der Kultur!" 17.06.1971 Auch der zweite Abschnit liefert viele interessante Gedanken: Stille, Liebe und Nachdacht sind ihre Themen, wie die Mahnung Entwinde dich der Stille nicht, Und wende dich nicht von hinnen, Sie ist nicht stumm! Die Stille spricht Zu deinen inneren Sinnen. 20.09.1959 In einem der lustigsten Gelegenheitsgedichten beweist die Autorin, dass sie auch noch schlesiche Mundart beherrscht: Setz', eh de in de Kieche gehst Die Prille uf de Nees! Moritat: Die Geschichte vom versalznen Zuckerguß; 1971 |