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review 2019-12-10 10:45
Abercrombie light
Königsschwur: Roman - Joe Abercrombie,Kirsten Borchardt

„Königsschwur“ von Joe Abercrombie erschien 2014 als Auftakt der Trilogie „Shattered Sea“ – zwei Jahre, nachdem er sechs umfangreiche Bände in seinem „First Law“-Universum veröffentlicht hatte. Abercrombie war seiner eigenen Schöpfung müde und wollte etwas Neues versuchen. „Königsschwur“ ist seine Auslegung des Young Adult – Genres. Kitschiges Teenagerdrama sucht man bei ihm dennoch vergeblich, denn seiner Ansicht nach sind junge Erwachsene eben auch Erwachsene, weshalb ihre literarischen Bedürfnisse nicht allzu stark abweichen. Der größte Unterschied zu seinen „First Law“-Romanen liegt im Alter des Protagonisten: Prinz Yarvi ist deutlich jünger, wodurch die Geschichte einen Coming of Age – Aspekt enthält. Aber Abercrombie wäre nicht Abercrombie ohne eine ordentliche Portion Blut und Grimmigkeit. Deshalb überrascht es nicht, dass „Königsschwur“ das Motiv der Rache behandelt. 

 

Prinz Yarvi wollte nie König werden. Er weiß, dass er mit seiner schmächtigen Statur, der verkrüppelten linken Hand und seiner Liebe zu Büchern nicht das Abbild eines Herrschers verkörpert, wie ihn sich das Volk von Gettland wünscht. Glücklicherweise ruht die Bürde des Thronfolgers auf den Schultern seines Bruders, sodass es Yarvi freisteht, den Weg eines Gelehrten einzuschlagen. Doch leider dreht sich der Wind im hohen Norden manchmal innerhalb eines Wimpernschlags. Als sein Vater und sein Bruder im benachbarten Vansterland ermordet werden, bleibt Yarvi keine andere Wahl, als den Schwarzen Thron zu besteigen. Er schwört blutige Rache und befiehlt einen raschen Gegenschlag. Noch bevor die Kämpfe beginnen, wird er verraten. Verkauft als Sklave verschlägt es ihn in die entlegensten Gegenden der Bruchsee. Aber sein Wille ist ungebrochen. Denn das Gesetz der Rache kennt keine Gnade. 

 

Ich wusste vor der Lektüre nicht, dass „Königsschwur“ Joe Abercrombies Version eines Jugendromans darstellt. Hätte ich es gewusst, hätte ich vermutlich einige Aspekte der Geschichte und des Handlungsverlaufs anders bewertet. Ich freute mich auf einen typischen Abercrombie, was ich hingegen bekam, war „Abercrombie light“. Ich erkannte seine unnachahmliche Handschrift, doch meine Erwartungen wurden nicht vollständig erfüllt. Der Auftakt der „Shattered Sea“-Trilogie weist nicht dieselbe Liebe zum Detail auf, die mich in seinen „First Law“-Romanen begeisterte. Das Buch ist eine schnellere, oberflächlichere Variante seiner übrigen Arbeit. Mittlerweile weiß ich, dass das genauso beabsichtigt war, aber während der Lektüre wunderte ich mich über das ungenutzte Potential der Geschichte. Größere Zeitsprünge diktierten ein höheres Tempo und eine weniger sorgfältige Taktung, was wiederum in eine weniger tiefgreifende Charakterisierung der Figuren resultierte. Ich fand das schade, denn mich hätten die übersprungenen Abschnitte der abenteuerlichen Reise des Protagonisten Yarvi ebenfalls interessiert, gerade bezüglich ihrer Bedeutung für seine persönliche Entwicklung. Wie es sich für Young Adult – Literatur gehört, ist die Coming of Age – Ebene in „Königsschwur“ sehr deutlich und klar definiert, obwohl Abercrombie hierfür ungewöhnlich harte Bedingungen aufstellt, die er explizit porträtiert. Als Sklave erwachsen zu werden, ist für Yarvi selbstverständlich kein Zuckerschlecken. Dennoch haben die brutalen Umstände, die ihm aufgezwungen werden, einen maßgeblichen Einfluss auf sein Selbstverständnis, der ihm als Prinz oder König von Gettland verwehrt geblieben wäre. Am Anfang der Geschichte hadert er mit seiner Rolle in der kriegerischen Gesellschaft des nordischen Königreichs, in dessen Kontext Abercrombie wenig Experimente wagt, sich auf eine klassische Darstellung der Wikinger verlässt und bisher kaum übernatürliche Elemente involviert. Da Yarvi mit einer Missbildung seiner linken Hand geboren wurde und sich körperlich nicht als Kämpfer qualifiziert, ist er ein Außenseiter, notgedrungen toleriert, weil er zur königlichen Familie gehört. Niemand respektiert ihn. Er kann sich nicht einmal selbst leiden. Erst während der Strapazen der Zwangsarbeit lernt er, die scharfen, tödlichen Waffen seines Verstandes effektiv einzusetzen. Er beginnt, sich wirklich mit seiner Intelligenz zu identifizieren und diese als Zentrum seiner Selbstwahrnehmung zu etablieren. Je mehr Selbstbewusstsein er aus seinem Intellekt bezieht, desto irrelevanter erscheint ihm sein verhängnisvoller Racheschwur. Ich mochte, dass sich seine Einstellung ändert und er seinen Eid verflucht, denn eigentlich passt dieses Versprechen roher Gewalt nicht zu ihm. Allerdings kann Yarvi als Gettländer nicht aus seiner Haut; seine Herkunft erlaubt ihm nicht, ein Unrecht einfach zu vergeben und so verfolgt er seinen Schwur mit aller Konsequenz – deshalb fügt sich „Königsschwur“ inhaltlich trotz konzeptioneller Unterschiede nahtlos in Joe Abercrombies Gesamtwerk ein. Blut, Gewalt und Tod sind eben seine Markenzeichen. 

 

Obwohl „Königsschwur“ nicht meinen Erwartungen entsprach, bin ich froh, dass Abercrombie sogar in einem Jugendroman als Abercrombie erkennbar ist. Mir gefällt es, wie gelassen er diesen Rahmen interpretiert, denn ich halte die Unterstellung, junge Erwachsene könnten nicht mit expliziten Darstellungen umgehen, für Unsinn. Der Trilogieauftakt erschien mir etwas weniger aufregend als die „First Law“-Romane, weil der Protagonist Yarvi eben kein Krieger ist und selten aktiv an Kampfszenen teilnimmt, doch die politisch aufgeladene Handlung, die interessante Konsequenzen für die Folgebände impliziert und einige Überraschungen bereithält, entschädigte mich dafür. Das einzige, was mich ehrlich wurmte, war meine flache Bindung an Yarvi, die meiner Ansicht nach darin begründet war, dass ich entscheidende Stationen seiner Entwicklung nicht miterleben durfte. Hoffentlich verzichtet Abercrombie in der Fortsetzung „Königsjäger“ auf allzu große Zeitsprünge. 

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/12/10/joe-abercrombie-konigsschwur
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review 2017-08-08 10:33
Eindringlich, psychologisch vielschichtig, unverzichtbar
Beloved - Toni Morrison

Interessiert man sich für weibliche, afroamerikanische Literatur, kommt man an Toni Morrison nicht vorbei. 1993 erhielt sie als erste schwarze Frau den Literaturnobelpreis. Bereits fünf Jahre zuvor wurde ihr Roman „Beloved“, in dem sie sich mit der Geschichte der Sklaverei in den USA auseinandersetzt, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Das Buch basiert lose auf der Biografie von Margaret Garner, die 1856 ihre zweijährige Tochter tötete, um sie vor einem Leben in Sklaverei zu bewahren. Ich habe lange gebraucht, bis ich bereit für „Beloved“ war. Tatsächlich begann ich das Buch schon einmal, bemerkte aber, dass ich mit dem Schreibstil noch nicht zurechtkam und stellte es zurück ins Regal. Drei Jahre wartete es geduldig auf mich.

 

18 Jahre ist es her, dass Sethe eine Sklavin in Sweet Home war. Unaussprechliches wurde ihr angetan, bis sie, hochschwanger und allein, floh. Zu Fuß schlug sie sich nach Ohio durch, wo sie im Haus ihrer Schwiegermutter Baby Suggs unterkam. Heute ist die 124 ihr Heim, in dem sie mit ihrer Tochter Denver lebt. Freiheit ist jedoch mehr als ein physischer Zustand. Noch immer wird Sethe von ihren Erinnerungen heimgesucht. In ihrem Haus spukt der Geist ihres Babys, auf dessen Grabstein ein einziges Wort eingraviert ist: Beloved. Als ein Besucher aus ihrer Vergangenheit eines Tages auf der Schwelle der 124 auf Sethe wartet, scheint es, als erhielte sie erstmals eine Chance auf wahres Glück. Doch diese Hoffnung währt nur einige Herzschläge, denn kurz darauf tritt eine junge Frau in ihr Leben, die Sethes Glauben, ihre Mutterliebe und ihr Verständnis von Freiheit hart auf die Probe stellt. Sie sagt, sie heißt Beloved…

 

Wie könnte ich für dieses preisgekrönte Buch weniger als fünf Sterne vergeben? „Beloved“ ist ein moderner Klassiker, der das vor allem in den USA ungeliebte Thema der Sklaverei psychologisch vielschichtig und glaubwürdig bespricht. Erstaunlicherweise halte ich den Roman trotz dessen nicht für eine Abhandlung über Sklaverei. Meiner Meinung nach ist es eine Geschichte darüber, was Freiheit bedeutet, speziell für farbige Frauen. Laut Vorwort entspricht dieser Eindruck auch Toni Morrisons Intention. Die Handlung spielt vermutlich zwischen 1865 und 1890, nach dem amerikanischen Sezessionskrieg und der offiziellen Abschaffung der Sklaverei. Im Mittelpunkt stehen Vergangenheit und Gegenwart der Protagonistin Sethe, die untrennbar miteinander verwoben sind. Sethe lebte viele Jahre als Sklavin auf der Farm Sweet Home in Kentucky, bis sie die Qualen unter ihren weißen Herren nicht mehr aushielt und den gefährlichen Entschluss traf, zu fliehen. Ich war sehr dankbar, dass Sethes Sklavenzeit zur Gegenwart des Buches bereits knapp 20 Jahre zurückliegt. Dadurch erlebte ich ihr Leid mit einem gewissen Abstand und war nicht gezwungen, die furchtbaren Torturen, die ihr angetan wurden, live zu beobachten. Ich will damit nicht ausdrücken, dass ich die Augen vor der Realität verschließe, doch die menschenunwürdigen Methoden der Sklavenhalter in Sweet Home waren selbst als Rückblenden äußerst schwer zu ertragen. Sethes Rücken ist von Narben entstellt, die Zeugnis vom brutalen, rücksichtslosen Einsatz der Peitsche tragen. Morrison vergleicht das Narbengewebe mit einem Baum, aus dem neues Leben entspringt – als ich diesen Absatz las, liefen mir Tränen über die Wangen, weil es mir sehr zu Herzen ging, dass die Autorin für etwas so schreckliches und falsches wundervolle Worte fand. Ihren Schreibstil empfand ich insgesamt als sanftmütig, gefasst und würdevoll; sie wedelt nicht mit dem moralischen Zeigefinger vor den Augen ihrer Leser_innen, sondern lässt die beschämenden Wahrheiten ihrer Geschichte für sich selbst sprechen. Sie deutet vieles erst nur an und führt es später genauer aus, wodurch sich das Gesamtbild der Erlebnisse der Sklaven in Sweet Home und ihrer Strategien, ihre Erinnerungen zu verarbeiten, langsam zusammensetzt. Während Baby Suggs ihr Herz für alle öffnete und sich zu einer spirituellen Leitfigur entwickelte, konzentrierte sich Sethe voll auf ihre Mutterrolle. Es stimmte mich traurig, dass Sethe sich zwar selbst befreite, aber niemals frei wurde. Ihre Vergangenheit bestimmt noch immer jeden ihrer Schritte. Sie verfolgt keine Pläne oder Träume, weil ihre Fähigkeit zur Fantasie irreparabel verkrüppelt wurde. Sie flüchtet sich in Gewohnheiten, die ihr Sicherheit vermitteln. Ihr einziger Wunsch lautet, dass ihre Kinder es besser haben sollen. Ich hatte das Gefühl, dass Sethe unbewusst die ganze Zeit darauf wartet, dass das Leben, das sie sich mühsam aufbaute, erneut von außen demontiert wird. Sie erwartet neuen Schmerz, neues Leiden und konnte deshalb nie lernen, ihr Leben auszufüllen, obwohl ihr Lebenswille unfassbar stark ist. So stark, dass sie als Löwenmutter in Kauf nahm, ihre eigene Familie zu zerstören, um ihre Kinder vor den Erfahrungen zu retten, die ihr aufgezwungen wurden. Bis heute beteuert sie die Rechtmäßigkeit ihrer verzweifelten Entscheidungen, doch auf mich wirkte es, als lechze sie nach Absolution. Sie ist nicht überzeugt, dass ihr Handeln richtig war und geißelt sich jeden Tag. Ich habe versucht, mich in sie hineinzuversetzen, herauszufinden, was ich an ihrer Stelle getan hätte. Ich habe keine Antwort gefunden. Ich kann das Ausmaß der Verzweiflung, das Sethe empfunden haben muss, unmöglich nachempfinden, so sehr ich mich auch anstrenge. Darum urteile ich nicht über sie. Ich bemühe mich lediglich, sie zu verstehen, wie Toni Morrison es meiner Ansicht nach auch beabsichtigte.

 

„Beloved“ ist eine eindringliche Aufarbeitung der psychologischen Folgen der Sklaverei, die unverzichtbar für den amerikanischen und globalen Kanon ist. Toni Morrison sagte einst, dass sie das Buch geschrieben habe, weil es für die Opfer der Sklaverei in den USA keinerlei Denkmäler gäbe. Ich glaube, man muss diesen Roman genau auf diese Weise lesen: als Hommage, als Gedenken, als Anerkennung des millionenfachen Leids, dass die Sklaverei verursachte. Wir müssen uns mit unserer Verantwortung, unserer Schuld auseinandersetzen, nicht nur in den Staaten, sondern weltweit, weil die schiere Dimension der Grausamkeit, mit der Menschen damals wie Vieh behandelt wurden, uns alle angeht. Wir wollen mal nicht vergessen, dass sich auch europäische Länder eine goldene Nase mit dem Sklavenhandel verdienten. Außerdem halte ich eine Aufarbeitung dieses vergangenen Unrechts, wie „Beloved“ sie bietet, für unumgänglich, um gegen dessen Entsprechungen in der Gegenwart kämpfen zu können. Sklaverei wird heute Menschenhandel genannt, aber das Prinzip hat sich nicht verändert. Noch immer gibt es Menschen, die ähnliche Verzweiflung und ähnliches Leid wie Sethe erfahren. Jeden Tag. Überall.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/08/08/toni-morrison-beloved
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review 2016-07-17 10:14
Die Spielarten der Evolution
Die Abschaffung der Arten - Dietmar Dath

Nach der Lektüre der Trilogie „Die Seiten der Welt“ von Kai Meyer hatte ich das Gefühl, unbedingt ein Buch für Erwachsene lesen zu müssen. Ich wollte ein Leseerlebnis, das mich fordert. Die Wahl, die mein Bauch für uns traf, überraschte mich allerdings: „Die Abschaffung der Arten“ von Dietmar Dath. Ich zögerte. Ich wusste, dass dieses Werk eines der anspruchsvollsten ist, die mein Regal zu bieten hat, auch, weil ich irrtümlich annahm, es handele sich dabei um ein Sachbuch. Als ich es in der Hand hielt, klärte sich diese Fehleinschätzung natürlich auf, doch meine Skrupel blieben. Ich stritt mit mir selbst, entschied dann aber, mich darauf einzulassen. Normalerweise weiß mein Bauch sehr genau, wann ich für eine bestimmte Lektüre bereit bin – ich vertraute ihm und stürzte mich in „Die Abschaffung der Arten“.

 

Die Zeit der Menschen auf Erden ist abgelaufen. Nun regieren Tiere eine Welt, die nur noch bedingt an die Errungenschaften der Menschheit erinnert. Unter der Führung des Löwen Cyrus Golden erreichte die Gesellschaft der Gente Frieden, Wohlstand und Intellektualität. Die Evolution auf dem Zenit ihrer Macht. Doch die Evolution ist eine wankelmütige Göttin ohne Gewissen. In den Wäldern Südamerikas entsteht eine neue Lebensform, die alles bedroht, was der Löwe einst als wahrgewordene Utopie erschuf. Der Gefahr ins Auge blickend entsendet er den Wolf und Diplomaten Dmitri, um einen alten Verbündeten aufzusuchen. Auf seiner Reise sammelt Dmitri Eindrücke und Erkenntnisse und beginnt zu verstehen, warum den Menschen die Ewigkeit verwehrt wurde. Die neuen Besitzer der Erde müssen wählen: haben sie wahrhaft aus den Fehlern ihrer Vorgänger gelernt und sind bereit, sich der Evolution demütig zu beugen oder wird ihnen Hybris zum Verhängnis?

 

Ich denke nicht, dass ich „Die Abschaffung der Arten“ vollständig verstanden habe, das möchte ich von vorneherein klarstellen. Ich schäme mich nicht, das zuzugeben, denn ich glaube, es gibt wenige Menschen auf der Welt, die dieses Buch voll und ganz zu deuten verstehen. Die Lektüre ist ein Kampf mit den Grenzen der menschlichen Intellektualität und überstieg definitiv hin und wieder meinen Horizont. Dietmar Dath stellt hochabstrakte Spekulationen auf wissenschaftlicher Ebene an. Philosophie, Biologie, Genetik, Physik, Chemie – man müsste schon in all diesen Gebieten gleichermaßen bewandert sein, um das volle Gewicht von „Die Abschaffung der Arten“ wertschätzen zu können. Es wäre gelogen, würde ich das von mir behaupten und doch empfinde ich dieses Buch als Bereicherung, weil die Botschaft unverkennbar ist. Ob Mensch, ob Tier, wir alle sind Sklaven der Evolution. Sie ist die eine Konstante, der wir uns nicht widersetzen können, unabhängig davon, wie nachdrücklich wir es versuchen. Der Löwe wollte der Welt eine neue Geschichte nach seinem idealistischen Design geben. Er erschuf technisch weiterentwickelte, biologische Hybride, die jede Artenzuordnung ad absurdum führen. Er wollte der Evolution durch die uneingeschränkte Förderung von Individualität ein Schnippchen schlagen und ihr gleichkommen. Es sollte so viele Arten wie Einzelwesen geben. Darauf spielt der Titel an. Ein Wolf mit Bocksbeinen, eine grüne Dachsin, eine Schwarmintelligenz mit der Fähigkeit der Autotomie – jeder Wunsch kann erfüllt werden. Mich erinnerte der Löwe an den Zauberer von Oz. Er tritt als omnipotenter Herrscher auf, ein wohlwollender Magier, der milde Gaben verteilt und sein Volk mit Tricks regiert und manipuliert. In diesem Bild ist die neue Lebensform im südamerikanischen Dschungel die böse Hexe des Westens, eine Bedrohung, die sich völlig seiner Kontrolle entzieht. Die unbestrittene Fortschrittlichkeit der Gesellschaft, ihre Verehrung der Evolution, schützt sie nicht vor den unberechenbaren Spielarten selbiger. Vielleicht ist es Karma, vielleicht einfach der Lauf der Welt. Vielleicht steht jeder Zivilisation nur eine vergleichsweise kurze Zeit auf Erden zu, bevor sie der Erneuerung weichen muss. Der Vorteil der Gente gegenüber der Evolution besteht in ihrer Unabhängigkeit von sterblichen Hüllen. Die gesamte Gesellschaft gründet sich auf einem ungemein weitgefassten Verständnis von Körperlichkeit. Individualität ist eine Eigenschaft des Geistes, nicht des Körpers. Somit ist es der Geist, nicht der Körper, der bewahrt werden muss, um wahre Unsterblichkeit zu erreichen. Die Gente haben Möglichkeiten gefunden, Erinnerungen, ja ganze Persönlichkeiten zu speichern und zu transferieren. Die Tragweite dieser Erkenntnis und des daraus resultierenden Handlungsstrangs wurde mir erst in der zweiten Hälfte des Buches bewusst. Dietmar Dath arbeitete mit einem äußerst heftigen inhaltlichen Bruch, führt seine Leser_innen in der zweiten Hälfte von „Die Abschaffung der Arten“ ohne Vorwarnung in ein völlig neues Setting weit in der Zukunft und stellt (scheinbar) völlig neue Figuren vor. Obwohl ich von diesem Sprung anfangs extrem irritiert war, erkenne ich nun die Notwendigkeit. Ohne ihn wären die Konsequenzen der Entwicklungen der ersten Hälfte nicht sichtbar gewesen. Die Pläne, die von den Gente zu Zeiten des Löwen vorbereitet wurden, waren auf Jahrhunderte ausgelegt. Dath brauchte die zeitliche sowie räumliche Trennung, um deutlich zu machen, worauf er hinauswollte: das Bewahren von Individualität ist der einzige Weg, die Evolution zu umgehen.

 

Vielleicht begreife ich erst in vielen Jahren, was mir die Lektüre von „Die Abschaffung der Arten“ auf lange Sicht gebracht hat. Das Lesen war anstrengend und anspruchsvoll; ich bewundere Dietmar Dath für seinen Mut, erfolgreich ein Buch in diesem Schreibstil zu veröffentlichen. Trotzdem fühlte sich die Lektüre nicht nach durchquälen an. Es war ein Kampf, ja, aber keine Qual, weil die Geschichte in all ihrer Abstraktheit eben auch fesselnd ist. Fraglos ist die Tatsache, dass es mich intensiv zum Nachdenken angeregt hat, vielleicht so sehr wie noch kein Buch zuvor. Das Leben findet immer einen Weg und dieses Leben ist in seiner Essenz immer von den gleichen Themen bestimmt, unabhängig davon, wie fortschrittlich eine Lebensform ist. Gefühle sind eine Ebene, die die Evolution nicht erreicht.
Ich werde euch „Die Abschaffung der Arten“ nicht empfehlen. Es fiel mir bereits schwer, das Buch mit einer konkreten Anzahl von Sternen zu bewerten, weil es selbst völlig wertungsfrei ist. Es ist eine objektive Schilderung einer möglichen Zukunft, nicht mehr und nicht weniger. Meiner Ansicht nach muss man eine bewusste Entscheidung treffen, wenn man mit dem Gedanken spielt, dieses Werk zu lesen. Halbherzigkeit ist absolut fehl am Platz. Entweder man hat den Willen, sich mit diesem Buch auseinander zu setzen, komme was da wolle, oder man hat ihn nicht.

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