logo
Wrong email address or username
Wrong email address or username
Incorrect verification code
back to top
Search tags: szene
Load new posts () and activity
Like Reblog Comment
review 2017-07-04 11:10
Die seltsamste Rezension, die ich je geschrieben habe
Harry Potter: Harry Potter und das verwunschene Kind. Teil eins und zwei (Special Rehearsal Edition Script) - J.K. Rowling,John Kerr Tiffany,Jack Thorne,Anja Hansen-Schmidt,Klaus Fritz

Die Rezension zu „Harry Potter und Das verwunschene Kind“ ist vermutlich die seltsamste, die ich jemals geschrieben habe. Die ganze Situation ist maßlos seltsam. Bereits die Aussicht, nach all den Jahren ins Potter-Universum zurückzukehren, erst durch den Reread (gemeinsam mit meiner Schwester im Geiste Marina aka DarkFairy) und jetzt durch eine neue Geschichte, löste in mir eine wahre Flut verschiedener, teils gegensätzlicher Emotionen aus.

 

Als ich erfuhr, dass sich Joanne K. Rowling mit dem Drehbuchautor Jack Thorne und dem Theater-Regisseur John Tiffany zusammengetan hatte, um die „Harry Potter“ – Reihe mit einem Theaterstück weiterzuführen und dieses als Buch erscheinen sollte, war ich erst nicht sicher, ob ich es überhaupt lesen wollte. Vielleicht erging es einigen von euch ähnlich. Die Romane dieser Reihe sind mir heilig; sie sind ein bedeutender Teil meiner Kindheit, Jugend und meines erwachsenen Lebens. Der ursprünglich letzte Band „Harry Potter und Die Heiligtümer des Todes“ erschien 2007 – 2016, neun Jahre später, sollte es nun also eine Fortsetzung für die Bühne geben? Das erschien mir wie ein Sakrileg. Blasphemie. Hatten Jack Thorne und John Tiffany überhaupt eine Ahnung von „Harry Potter“? Wussten die beiden Männer, welches enorme Erbe sie antreten wollten und wie viel Verantwortung sie damit auf ihre Schultern luden? Potterheads sind empfindliche, verletzliche Wesen, deren Zorn furchtbar sein kann, beschmutzt man das Andenken an „ihre“ Bücher. Ich bin da keine Ausnahme. Die Geschichte des Zauberlehrlings ist für uns eben nicht nur eine Geschichte. Sie ist literarische Magie. Wir lachten, weinten, bangten mit Harry und wurden an seiner Seite erwachsen. Dieses ominöse Stück, „Harry Potter und Das verwunschene Kind“, musste schon verdammt gut sein, um der Erinnerung an Jahre der Liebe und Verbundenheit gerecht zu werden.

Was mich letztendlich überzeugte, das Bühnenstück doch zu lesen, war – neben purer Neugierde – Joanne K. Rowlings Mitarbeit. Ich dachte, wenn Harrys schriftstellerische Mutter das Projekt überwachte, für gut befand und darauf achtete, dass es sich homogen in die Reihe einfügte, konnte mein Risiko nicht allzu groß sein. Ich gestand ihr einen Vertrauensvorschuss zu und wollte daran glauben, dass sie niemals zulassen würde, dass Harry in diesem neuen Buch lächerlich gemacht würde. Sie kennt die Fans. Sie weiß, was Harry uns bedeutet. Ich bin überzeugt, dass er ihr mindestens genauso viel bedeutet. Also ließ ich mich auf das Experiment ein und kaufte „Harry Potter und Das verwunschene Kind“, womit es übrigens der erste Potter überhaupt ist, den ich selbst bezahlte.

 

19 Jahre ist es her, dass Harry Potter Lord Voldemort bezwang und die Welt rettete. Der verzweifelte Waisenjunge wurde erwachsenen. Er wurde ein überarbeiteter Ministeriumsangestellter, ein Ehemann, der Vater dreier Kinder. Harry liebt seine Familie, nur sein mittlerer Sohn Albus Severus bereitet ihm Sorgen. Albus ist nicht wie seine Geschwister James und Lily. Er ist anders und kann mit dem Vermächtnis seines berühmten Nachnamens nicht umgehen. Er will mit dem Erbe seiner Geburt nichts zu tun haben. Als ihn der Sprechende Hut bei seiner Aufnahme in Hogwarts nach Slytherin schickt und er sich ausgerechnet mit Scorpius Malfoy, Draco Malfoys Sohn, anfreundet, reißen die Gräben zwischen Vater und Sohn stetig weiter auf. Dunkle Zeichen werfen ihre Schatten am Horizont und plötzlich scheint es, als hole Harry die Vergangenheit ein. Wird er seinen Sohn vor den gleichen finsteren Mächten beschützen können, die einst auch sein Leben bedrohten? Oder ist die Kluft zwischen ihnen längst zu groß?

 

Als ich „Harry Potter und Das verwunschene Kind“ aufschlug, wusste ich, dass Harry nicht mehr derselbe sein würde. Der Held meiner Kindheit ist erwachsen geworden. Ich war bereit, ihn noch einmal ganz neu kennenzulernen. Ich freute mich darauf, seine Familie zu treffen, auf die ich am Ende des letzten Bandes „Harry Potter und Die Heiligtümer des Todes“ einen kurzen Blick werfen durfte. Tatsächlich beginnt „Das verwunschene Kind“ mit genau dieser hoffnungsfrohen, berührenden Szene in King’s Cross, in der Harry und Ginny ihre beiden Söhne am Hogwartsexpress verabschieden. Ich fühlte mich auf den älteren Harry vorbereitet. Worauf ich hingegen nicht vorbereitet war, ist das Konzept des Bühnenstücks. Es fiel mir unheimlich schwer, mich auf das Skript einzulassen und mich daran zu gewöhnen, dass die Geschichte aus vielen kurzen Szenen besteht, die die Handlung rasant vorantreiben. Mal davon abgesehen, dass ich mir kaum vorstellen kann, wie diese rasche Abfolge von Szenenwechseln auf der Bühne umsetzbar ist, stotterte und stockte mein Kopfkino gewaltig. Ich war erst zu Beginn des zweiten Aktes wirklich drin, obwohl die Regieanweisungen erstaunlich umfangreich sind und beinahe an Prosa erinnern. Ich hatte das Gefühl, dass sich Joanne K. Rowling arg zurückhalten musste, um die Szenen nicht zu ausschweifend zu beschreiben. Grundsätzlich stört dieser Detailreichtum selbstverständlich nicht, doch ein Teil von mir begann sich schmollend zu fragen, wieso sie nicht gleich einen Roman schrieb, wenn sie so viel zu sagen hatte. Wieso ein Stück, mit all seinen Begrenzungen und Einschränkungen?

 

Die Geschichte fokussiert einerseits den erwachsenen Harry Potter und andererseits seinen komplizierten, mittleren Sohn Albus Severus. Der erste Akt rauscht durch Albus‘ erste Jahre in Hogwarts und zeigt, wie schwer er es sowohl in seiner Familie als auch in der Schule für Zauberei hat. Albus gehört nirgendwo richtig dazu; er ist anders als seine Geschwister und fühlt sich in Hogwarts nicht wohl. Er empfindet sich selbst als das berüchtigte schwarze Schaf. Er kann den Erwartungen, die in ihn als Sohn des berühmten Harry Potter gesetzt werden, nicht gerecht werden und erlebt seine Schulzeit daher als Außenseiter. Seine Freundschaft zu Scorpius Malfoy erschwert seine Situation zusätzlich, da über Scorpius grauenvolle Gerüchte kursieren und dieser ebenso ausgegrenzt wird wie Albus selbst. Ich mochte die beiden trotzdem sehr gern. Ich erkannte in Albus die Züge seines Vaters: sein gutes Herz, seinen Mut, seine Abenteuerlust, aber auch die Trotzhaltung, die Harry vor allem im fünften Band „Der Orden des Phönix“ an den Tag legte. Scorpius hingegen ist völlig anders als sein Vater. Ich sah in ihm nichts, was mich an Draco erinnerte – das könnt ihr durchaus als Kompliment werten. Angesichts der grausamen Dinge, die über Scorpius behauptet werden, finde ich, dass er sogar bemerkenswert gut geraten ist. Es überraschte mich nicht, dass Albus sich in die Freundschaft zu ihm flüchtet, weil er sich in seiner Familie missverstanden und ausgeschlossen fühlt.

 

Die Beziehung zwischen Albus und Harry brach mir fast das Herz. Es ist furchtbar traurig, dass sie überhaupt keinen Draht zueinander haben, obwohl sie sich so ähnlich sind. Marina, mit der ich mich während der Lektüre weiterhin alle 100 Seiten austauschte, bemerkte, dass Harry erneut beweist, wie wenig Einfühlungsvermögen er besitzt. Mein erster Impuls war, ihn heftig zu verteidigen, doch je länger ich darüber nachdachte, desto bewusster wurde mir, wie Recht sie hat. Es ist wahr, Harry ist überhaupt nicht in der Lage, sich in seinen „missratenen“ Sohn hineinzuversetzen. Es war, als würden sie in unterschiedlichen Sprachen permanent aneinander vorbeireden. Albus tat mir schrecklich leid, weil Harry in seiner Rolle als Vater in diversen Szenen kläglich versagt. Es ist nicht Albus‘ Schuld, dass er sich nicht mit seiner Familie identifizieren kann; es ist die Aufgabe seiner Eltern, ihm Liebe, Geborgenheit und Verständnis zu vermitteln.

 

Es war ein wenig befremdlich, wenn auch interessant, Hogwarts mit den Augen eines Protagonisten zu sehen, der sich dort nicht Zuhause fühlt. Ich bin so daran gewöhnt, die Schule als romantisiertes, idealisiertes Paradies für heimatlose, einsame Kinder wahrzunehmen, dass es mir schwerfiel, mich daran zu erinnern, dass es immer Schüler_innen gab, die Hogwarts nicht als Antwort auf ihre Gebete erlebten. Mobbing, Lästereien und fiese Gerüchte gehören ebenso zum Alltag wie der Unterricht. Harry erfuhr am eigenen Leib, wie gemein seine Mitschüler_innen sein konnten, doch die Ablehnung, die ihm entgegenschlug, hatte ja meist mit seiner speziellen Position innerhalb der Gemeinschaft von Zauberern und Hexen zu tun. Ich übersah dadurch, dass es durchaus Kinder gab, die ohne besonderen Grund gehänselt wurden, nur, weil sie anders aussahen, ärmer als die anderen oder tollpatschig waren wie Neville Longbottom. Severus Snape, Albus Severus‘ Namensvetter, war in Hogwarts vermutlich niemals glücklich und Draco Malfoy ebenfalls nicht. Es betrübt mich, dass sein Sohn das Gleiche erleben muss.

 

Inhaltlich ist „Das verwunschene Kind“ eine logische Fortsetzung der Originalreihe. Natürlich ist der Zeitsprung enorm – in den knapp 20 Jahren, die seit der Schlacht von Hogwarts vergingen, ist einiges passiert, doch das Universum wurde nicht vollkommen auf den Kopf gestellt. Im Gegenteil, Rowling verdichtet ihre Welt sogar weiterhin und offenbart das eine oder andere Detail, das bisher im Dunkeln lag. Es gefiel mir hervorragend, dass sie sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruht.
Die Handlung knüpft an ein altes Unrecht aus Harrys Teenagerzeit an, was ich einfach großartig fand, weil es meiner Meinung nach naheliegend und realistisch ist. Selbst nach all dieser Zeit lässt diese spezielle Wunde Harry keine Ruhe und belastet sein Gewissen schwer. Angesichts dessen, dass ich mich während des Rereads mental intensiv mit diesem Vorfall auseinandergesetzt habe und zu dem Schluss kam, dass dieser extrem wichtig für seine Entwicklung war, wunderte es mich überhaupt nicht, dass Harry noch immer unter den Erinnerungen leidet. Er hat sich nie verziehen, was damals geschehen ist.

 

Diese Empfindungen sind der Ausgangspunkt der Ereignisse des Stücks, die in der Folge zu den für die „Harry Potter“ – Bände typischen turbulenten Verwicklungen führen. Action, Humor, Dramatik, philosophische Tiefe, Kreativität und große Emotionen ergeben erneut die Mischung, die ich seit meinem neunten Lebensjahr liebe. Es war fabelhaft, alte Bekannte wiederzutreffen und zu sehen, was aus ihnen geworden ist, obwohl nicht alle Lebensläufe meinen Erwartungen entsprachen. Harry zum Beispiel ist beruflich wesentlich erfolgreicher, als ich angenommen hatte und Hermine… Hermine ist noch immer außergewöhnlich. Belassen wir es dabei. ;) Der einzige, mit dessen Rolle ich unglücklich war, ist Ron. Wo ist der loyale, gutherzige Junge geblieben, der für seine Freunde über Leichen gehen würde? Ich habe ihn kaum wiedererkannt, denn in „Das verwunschene Kind“ ist er zum lächerlichen Kaspar verkommen, über dessen Scherze niemand wirklich lachen kann. Er ist der vermeintlich witzige Sidekick, der am laufenden Band unpassende Kommentare absondert. Ich finde das ungerecht, weil er diese Position meines Erachtens nach nicht verdient. Ron ist Harrys bester Freund, kein seichter Möchtegern-Witzbold.

 

Ich habe für „Harry Potter und Das verwunschene Kind“ gerade mal 2 Tage gebraucht. Kaum angefangen, war ich schon wieder durch. Schwupps. Ich muss gestehen, es ging mir zu schnell. Die Geschichte war zu kurz. Ich weiß, ich weiß, das liegt daran, dass es ein Stück ist, aber wie bereits erwähnt, sagt mir dieses Konzept grundsätzlich nicht zu. Ich vermute, dass Jack Thorne und John Tiffany damals an J.K. Rowling herantraten, nicht andersherum und die Geschichte deshalb genau auf die Bühne zugeschnitten ist – aber ich bin irgendwie ein bisschen enttäuscht. Was hätte Rowling aus diesem Stoff herausholen können, hätte sie sich für einen Roman entschieden? Wir hätten garantiert wieder einen 600 Seiten – Wälzer vorgesetzt bekommen. Ich kann einfach nicht leugnen, dass mir das besser gefallen hätte. Ich hätte mich gern zum Abschluss noch einmal richtig im Potter-Universum gesuhlt, wäre gern ganz tief eingetaucht und hätte jeden Satz so lange ausgekostet, bis quasi nichts mehr von ihm übrig wäre. Durch den Rahmen des Schauspiels ging das nicht, weil das Tempo und die Taktung vollkommen anders sind, eben an die Bühne angepasst, auf zwei Abende der Unterhaltung ausgelegt. Es ist nicht die Geschichte an sich – die gefällt mir sehr, aber ich bin überzeugt, dass ich von einem Roman mehr gehabt hätte. Schade. Trotzdem, sollte das Stück jemals nach Deutschland und Berlin kommen, werde ich es mir ansehen.

 

Insgesamt bin ich glücklich mit „Harry Potter und Das verwunschene Kind“. Vielleicht hätte es diese Fortsetzung nicht unbedingt gebraucht, vielleicht war sie nicht notwendig, doch ich finde, das Stück ist inhaltlich eine angemessene Ergänzung der Originalreihe und für wahre Potterheads ein Muss. Ich bin allerdings traurig, dass es nun endgültig vorbei ist. Der Abschiedsschmerz lastet schwer auf meinem Herz. Ich möchte Harry nicht Lebewohl sagen. Wobei, eine kleine Chance besteht. Bei J.K. Rowling weiß man ja nie. Möglicherweise packt es sie eines Tages doch noch mal. Ich bin sonst kein Fan davon, eine Geschichte ewig weiterzuführen und ihr nicht den Abschluss zu gönnen, den sie verdient, aber in diesem Fall… Ich liebe das Universum einfach zu sehr. Ich möchte zurückkehren. Ich möchte neue Abenteuer. Aber dann bitte als Roman.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/07/04/joanne-k-rowling-jack-thorne-john-tiffany-harry-potter-und-das-verwunschene-kind
Like Reblog Comment
show activity (+)
review 2017-06-15 10:18
Aus dem Leben eines modernen Kriegers
No llores, mi querida - Weine nicht, mein Schatz - André Pilz

Bevor ich mit der Rezension zu „No llores, mi querida – Weine nicht, mein Schatz“ beginne, sollte ich euch erklären, wieso ich diesen Skinhead-Roman besitze. Ich habe eine tiefe persönliche Bindung zum Thema des Buches, zu der Szene, in der und für die der Autor André Pilz es geschrieben hat. Ich war selbst jahrelang in der linken bzw. unpolitischen Skinhead-Szene aktiv. Ich war ein Renee, ein Skingirl, mit allem, was dazu gehört: Musik, Kleidung, Lebensstil. Mittlerweile habe ich die Szene verlassen, weil ich mit der Stagnation selbiger nicht zurechtkam. „No llores, mi querida“ war das letzte ungelesene literarische Überbleibsel dieser Zeit. Als ich es von meinem SuB befreite, war ich extrem gespannt, wie es auf mich wirken würde. Eine Reise in meine Vergangenheit stand bevor.

 

Skinhead, Skinhead, Oi Oi Oi! Diese Worte sind Ricos Schlachtruf. Jahrelang war Rico schwach, wurde geschubst und getreten, als er am Boden lag. Er schwor sich, niemals wieder so verletzlich zu sein. Er ist ein Skin, ein Krieger im täglichen Kampf gegen die brutalen Anforderungen einer Gesellschaft, in die er nicht passt. Gewalt und Exzess bestimmen seine Existenz. Seine Freunde sind ebenso Ausgestoßene wie er. Doch tief in seinem Herzen verzehrt sich Rico nach Hoffnung. Als er die Mexikanerin Maga kennenlernt und sich rettungslos in sie verliebt, stellt er sich zum ersten Mal die Frage, ob es nicht auch anders geht. Muss er die lähmende Verzweiflung, den Zorn, die giftige Bitterkeit ertragen? Gibt es keinen Ausweg aus der Abwärtsspirale seines Lebens? Entgegen aller Widerstände wird Maga zu Ricos Licht in der Dunkelheit und lehrt ihn, dass jeder Mensch eine Chance auf Glück verdient, sogar ein Skinhead.

 

Meine Rückkehr in den Kosmos der Skinheads war seltsam. Es war merkwürdig, mit Gedanken konfrontiert zu werden, aus denen ich lange herausgewachsen bin. Ich musste mich erst wieder an den derben Tenor der Szene und den daraus resultierenden ordinären Schreibstil in „No llores, mi querida“ gewöhnen. André Pilz schont sein Publikum nicht und ich glaube, für Leser_innen, die noch nie mit der Szene in Kontakt gekommen sind, ist das Buch vermutlich zu krass, mit all der Gewalt, literweise Alkohol und einem Leben am äußersten Rand der Gesellschaft. Ich brauchte ein wenig, um mich auf Pilz‘ Schilderungen einzulassen, kam dann aber schnell rein und konnte mich mit der extremen Härte des Romans arrangieren, obwohl ich nicht behaupten kann, dass ich mich wohlfühlte. Das ist wahrscheinlich gar nicht möglich. Ricos Auffassung seiner Identität als Skinhead unterscheidet sich radikal von dem, was ich damals empfand. Ich hätte nichts mit ihm und seinen „Freunden“ zu tun haben wollen, weil ich sie als asoziale Prolls eingeschätzt hätte. Ich habe Skingirl zu sein niemals damit assoziiert, eine Kriegerin zu sein. Für mich ging es um bodenständige Werte; darum, sich innerhalb der Gesellschaft eigene Regeln und Grenzen zu schaffen. Für Rico hingegen sind die Glatze, die schweren Stiefel und sein provokatives Verhalten Ausdruck seines persönlichen Krieges gegen die Gesellschaft. Er ist ein Anarchist, benimmt sich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Er empfindet Hilflosigkeit, Ohnmacht und Weltschmerz und da er nicht weiß, wie er mit seinen Gefühlen umgehen soll, schlägt er nach außen. Das stimmt mich unheimlich traurig, denn in seinem Kern ist Rico hypersensibel, eine maßlos empfindsame Seele und eigentlich viel zu zart für unsere grausame Welt. Die schützende emotionale Mauer, die Menschen normalerweise davor bewahrt, angesichts all des Leids und des Elends in der Welt verrückt zu werden, hat Rico nicht. Er tut, als würde ihn das alles überhaupt nichts angehen, dabei zerbricht er sich täglich den Kopf darüber. Ich kann nachvollziehen, dass er glaubt, ein Krieger sein zu müssen, um zu überleben. Er kennt nur Extreme, trotz seiner erstaunlich weit entwickelten Intelligenz. Man traut es Rico nicht zu, aber er ist tatsächlich ziemlich klug und ich gehe mit den meisten seiner philosophischen, gesellschaftskritischen Überlegungen konform. Lediglich die Konsequenzen schätze ich anders ein. Man kann das System nicht von außen zerstören, man kann es nur von innen heraus verändern. In diesem Punkt bin ich einer Meinung mit Maga, die für Rico einfach alles ist. Sie ist Auslöser, Motivation und Perspektive seiner Veränderung. Er wäre vermutlich auch ohne sie eines Tages darauf gekommen, dass sein Dasein deprimierend und leer ist, dass seine „Freunde“ asoziale Schläger sind, denen nichts irgendetwas bedeutet, aber dank Maga sieht er eine Alternative. Ihretwegen erkennt er, dass er die Wahl hat, ein anderes Leben zu führen.

 

Ich kann euch „No llores, mit querida – Weine nicht, mein Schatz“ ausschließlich unter ganz bestimmten Umständen empfehlen. Ich fand es zwar großartig, überraschend tiefsinnig und verblüffend berührend, aber es ist auch äußerst speziell, außergewöhnlich hart und ab und zu regelrecht abstoßend. Meiner Ansicht nach solltet ihr diesen Skinhead-Roman nur dann lesen, wenn ihr wahrhaft bereit für eine extreme, grenzwertige Variante des Konflikts zwischen Gesellschaft und Individuum seid. André Pilz treibt es auf die Spitze. Er kennt keine Tabus. Falls ihr meint, damit umgehen zu können, versucht es. Ich habe lediglich eine Bitte an euch. „No llores, mit querida“ mag autobiografische Elemente enthalten, doch bitte glaubt nicht, der Protagonist Rico und seine Truppe stünden stellvertretend für die gesamte Skinhead-Szene. Das ist nicht wahr. Ich habe in meiner Zeit in der Szene glücklicherweise nur wenige Gestalten kennengelernt, die ähnlich asozial und kaputt waren wie Rico. Die meisten Skins sind in einem gesunden Maß angepasst, wenn auch oft laut, wild und reichlich verrückt. Dieses Buch vermittelt nur einen winzigen Bruchteil der Realität. Skinhead zu sein kann vieles bedeuten. „Krieger“ ist nur eine Auslegung.

 

P.S.: Für all diejenigen unter euch, die Schwierigkeiten mit der Unterscheidung von Skinheads und Nazis haben und nach dieser Rezension ein bisschen verwirrt sind, finden auf der folgenden Website eine Erklärung der Szene: Du sollst Skinheads nicht mit Nazis verwechseln

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/06/15/andre-pilz-no-llores-mi-querida-weine-nicht-mein-schatz
Like Reblog Comment
show activity (+)
text 2015-12-18 11:42
Eine Geschichte, die sich schwer auf das Gewissen legt
Far North - Marcel Theroux

„Far North“ ist ein dystopischer Roman des Autors Marcel Theroux und lag lange, lange auf meinem SuB, bevor seine Zeit endlich gekommen war. Ich meine, ich habe es gekauft, kurz nachdem ich „Die Straße“ von Cormac McCarthy gelesen habe. Mein Verlangen nach düsteren Endzeitgeschichten war in dieser Phase enorm, da ich das Gefühl hatte, McCarthys Pulitzerpreis-gekröntes Meisterwerk habe mir eine ganz neue Welt der Literatur offenbart. Und auf gewisse Weise war das ja auch tatsächlich so. Mittlerweile ist meine Begeisterung für das Genre weniger euphorisch, doch hin und wieder lasse ich mich auch heute noch gern in eine dunkle, beunruhigende Zukunftsvision entführen.
„Far North“ erschien mir die ideale Winterlektüre zu sein, voller Eis, Schnee und klirrender Kälte.

 

Das Leben im hohen Norden ist kalt und hart. Die Einsamkeit ist ein ständiger Begleiter. Seit sich die Welt gegen die Menschen wandte, sind all die technischen Errungenschaften der vergangenen Jahrhunderte nur noch Erinnerungen. Das Land liegt brach und Siedlungen sind verlassen. Makepiece ist der letzte Mensch in Evangeline, bereit, das Dorf zu schützen und die Ordnung aufrecht zu erhalten. Eines Tages jedoch schleicht sich ein Schimmer Hoffnung in Makepiece‘s sorgsam gehütete Routine. Ein Flüchtling versteckt sich in Evangeline. Trotz anfänglichen Misstrauens ist die Bedeutung seiner Existenz unleugbar: es gibt noch immer Leben in der Welt. Mutig übergibt sich Makepiece der Wildnis, auf der Suche nach einer Zukunft. Doch Kälte und Härte finden sich nicht nur in der Natur, sondern auch in den Herzen der Menschen.

 

Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig Dystopien aus der erwachsenen Literatur mit dystopischen Young Adult – Abenteuern gemeinsam haben. Nicht nur verzichten sie häufig vollständig auf die Fixierung auf Hauptfiguren, die Herangehensweise ist einfach komplett anders. Erwachsene Dystopien sind mahnend, drohend und geben mir beim Lesen das Gefühl, dass das Wesen der Menschheit unausweichlich zu ihrem Untergang führen wird. Das Erstaunliche daran ist, wie viel Hoffnung sich meist trotz dessen in diesen Geschichten versteckt. „Far North“ ist in seiner Reinheit außergewöhnlich. Es ist eine ruhige, leise Endzeitgeschichte, die tief in die Seele der Menschheit blickt und die in einer wunderschönen, atemberaubenden, wilden Landschaft spielt. Marcel Theroux hat die Atmosphäre des hohen Nordens hervorragend eingefangen und transportiert sie mühelos. Wer hätte gedacht, dass ein Dokumentarfilmer Bilder auch in einem anderen Medium so spielend in Szene setzen kann. An Makepiece’s Seite konnte ich den Schnee unter meinen Stiefeln knirschen hören und sah, wie mein Atem zu kleinen Wölkchen kondensierte. Ich konnte mir die überwältigende Natur lebhaft vorstellen und empfand Ehrfurcht angesichts all der unbeschreiblichen Schönheit, die selbst in der größten Katastrophe liegen kann. Worin genau diese Katastrophe besteht, lässt Theroux offen. Obwohl ich sonst unheimlich neugierig bin und darauf bestehe, alles zu wissen, gefiel mir diese Vagheit in „Far North“ sehr gut. Die Geschichte – Makepiece’s Geschichte – thematisiert das Hier und Jetzt, die Kaltherzigkeit der Menschen in ihrem Überlebenskampf, nicht die Vergangenheit. Es ist nicht wichtig, was mit der Erde passiert ist. Wichtig ist in diesem Roman nur, wie die Menschen mit der „neuen“ Situation umgehen. Interessanterweise glaube ich, dass Theroux selbst jedoch eine ziemlich eindeutige Vorstellung davon hat, was vorgefallen ist. Die wenigen Informationen, die er preisgibt, wirkten realistisch und gut durchdacht. Ich bewundere ihn für die mutige Entscheidung, seinen Leser_innen nicht alles zu offenbaren und dadurch den Fokus strikt auf seiner Botschaft zu halten. Diese hat in meinen Augen fast etwas Darwinistisches. Nur, wer sich anpasst, überlebt. Wie allerdings nicht anders zu erwarten, gelingt das den meisten Menschen eher schlecht als recht. Ich muss ehrlich sagen, dass „Far North“ mein zuweilen reichlich zynisches Bild meiner eigenen Art voll und ganz bestätigte. Wenn ich eines aus diesem Buch mitnehme, dann die Überzeugung, dass wir verloren sind, wenn uns unser Planet im Stich lässt, aus welchen Gründen auch immer. Die Menschen in „Far North“ scheinen das Ausmaß ihrer eigenen Ignoranz überhaupt nicht zu begreifen; sie machen einfach weiter wie bisher, rücksichtslos und skrupellos. Auf mich wirkten sie wie verzweifelte, kopflose Ratten, die versuchen, ein sinkendes Schiff zu verlassen und dabei doch nur Wasser tretend im Kreis schwimmen. Es war erschreckend und tat mir im Herzen weh, zu erleben, welch bittere Enttäuschungen Makepiece auf der simplen Suche nach Kontakt erfährt. Es sind nicht die Menschen, die die Hoffnung in „Far North“ tragen. Es ist die Natur selbst. Eine Natur, die immer einen Weg findet. Eine Natur, die streng, aber gütig und großzügig zu denjenigen ist, die sie schätzen, respektieren und die verstehen, dass sie nur zu Gast sind.

 

Nach dem Lesen empfinde ich „Far North“ weniger als buchstäbliche Wintergeschichte, sondern eher als Wintergeschichte im übertragenen Sinne, obwohl das Setting selbstverständlich häufig von Schnee und Eis bedeckt ist. Es behandelt den Winter in der Seele der Menschheit. Die Kälte lebt in uns allen und zeigt sich, wann immer wir egoistisch und rücksichtslos handeln. Mich hat dieses Buch daher sehr nachdenklich gestimmt. Wie oft wird uns gesagt, wir sollen leben, als gäbe es kein Morgen? Diese Einstellung ist fatal, denn es gibt ein Morgen. Wir können uns weder aus der Verantwortung für einander noch aus der Verantwortung für unseren Planeten heraus schummeln. Ich danke Marcel Theroux dafür, dass er mich daran erinnert hat, dass wir keine zweite Chance erhalten werden.
Ich kann euch „Far North“ von Herzen empfehlen, möchte euch aber davor warnen, dass sich diese Dystopie nicht so nebenbei weg liest. Es ist eine Geschichte, die sich schwer auf das Gewissen legt.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/12/18/marcel-theroux-far-north
More posts
Your Dashboard view:
Need help?