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review 2019-07-31 11:46
Internet im Kopf
Coherent - Laura Newman

Laura Newman gilt als deutsches Paradebeispiel für gelungenes Veröffentlichen im Selbstverlag. Die 1983 geborene Autorin macht alles selbst: vom Grafikdesign, über den Buchsatz, bis zu Werbemaßnahmen. Und natürlich das Schreiben. Ihr erstes Buch erschien 2013, seit 2014 ist sie selbstständig. Nach 10 Jahren als Mediengestalterin wollte sie endlich etwas tun, das sie glücklich macht und kündigte kurzentschlossen. Mittlerweile kennt sie die Mechanismen des Selbstverlags in- und auswendig und teilt ihr Wissen bereitwillig auf ihrer Website, YouTube und ihren Social-Media-Kanälen. Dort findet sich auch ein ausführlicher Bericht zur Entstehungsgeschichte von „Coherent“, den ich äußerst spannend finde. Wer hätte gedacht, dass die widerspenstige Schnalle eines Schuhs einen futuristischen Jugendroman inspirieren könnte?

 

Irgendetwas stimmt nicht mit der 17-jährigen Sophie. Vor einigen Monaten stellte sie fest, dass alle technischen, mit dem Internet verbundenen Geräte mit ihr kommunizieren. Pausenlos bombardieren sie Daten, die sich ungefragt in ihrem Hirn ausbreiten. Für einen Schüleraustausch nach Frankreich in ein Flugzeug zu steigen ist da wirklich das Letzte, was Sophie möchte. Dummerweise ist es zu spät, den Trip abzusagen. Erst, als sie in Avignon eintrifft, wird ihr klar, dass sie den Tapetenwechsel dringend brauchte. Sie genießt die wundervolle Landschaft und das französisch leichte Lebensgefühl. Und dann ist da auch noch Jean, der ihr gehörig den Kopf verdreht. Mutig weiht sie ihn in ihr Geheimnis ein. Jean ist begeistert und gemeinsam erforschen sie Sophies mysteriöse Fähigkeiten. Doch ihre Vorstöße bleiben nicht unbemerkt und schon bald werden die beiden von einer undurchsichtigen, anonymen Behörde gejagt, die Sophie zu gern in die Finger bekommen würde …

 

Könnt ihr euch vorstellen, das Internet im Hirn zu haben? Mit einem Zwinkern digitale Fotogalerien durchstöbern, mit einem Gedanken E-Mails schreiben, mit einem Nicken Bestellungen aufgeben: Sophie, die Protagonistin in Laura Newmans SciFi-Roman „Coherent“, kann genau das. Und mehr. Sie braucht kein Endgerät, um online zu sein. Sie ist das Endgerät. Abgefahren. Aber ist es das wirklich? Oder wagte Newman mit diesem Buch einen Blick in eine nicht allzu weit entfernte Zukunft? Die Autorin öffnet mit den Fähigkeiten, die sie Sophie verleiht, eine unheimliche Büchse der Pandora moralischer und ethischer Implikationen, die sich in meinem Kopf verselbstständigten. Ich konnte mir mühelos ausmalen, was dieses „Upgrade“ für das Zusammenleben der Menschheit im großen Rahmen bedeuten könnte. Schon jetzt sind wir mit den Auswüchsen der Digitalisierung überfordert, bemängeln zunehmende Beschleunigung, Anonymität und soziale Kälte, Verrohung und Skrupellosigkeit – wie sähe diese Entwicklung erst aus, bräuchten wir Smartphones und Laptops nicht mehr als Krücke? Für mich ist völlig offensichtlich, dass alles noch schneller, noch vernetzter, noch gläserner wäre und ja, diese Aussicht beunruhigt mich. „Coherent“ brachte mein Kopfkino ordentlich auf Touren, obwohl Laura Newman all diese Konsequenzen gar nicht anspricht. Sie spekuliert nicht und beleuchtet Sophies Fähigkeiten lediglich aus der engen Perspektive ihrer sympathischen Protagonistin. Sie erwähnt zwar potenzielle militärische Einsatzgebiete, aber weitere Folgen klammert sie aus. Ich denke, dass diese Beschränkung dem Genre des Buches geschuldet ist. Die negativen gesellschaftlichen Aspekte passen eher in einen Roman für ein älteres Publikum und ich finde nicht, dass „Coherent“ durch den Verzicht darauf etwas fehlt, schließlich breiteten sie sich vor meinem inneren Auge trotzdem aus. Dass ich fähig war, die Idee der Geschichte über ihren Rahmen hinaus zu analysieren, liegt meiner Ansicht nach daran, dass Newman sich stark um Vorstellbarkeit und Realismus bemühte. Sophies Zustand ist nicht angeboren, sondern das Ergebnis eines fragwürdigen Experiments. Ich schätze es als plausibel ein, dass bereits in diese Richtung geforscht wird. Dennoch bin ich skeptisch, ob die Autorin Sophies Reaktion auf die Datenmenge, die sie überrollt, drastisch genug darstellt. Kopfschmerzen scheinen mir zu wenig zu sein, weil ich glaube, dass das menschliche Hirn unter dieser Informationsflut zusammenbrechen würde. Doch natürlich konnte Sophie schlecht ein sabberndes Wrack sein – Jean hätte sich dann wohl kaum für sie interessiert. Die Romanze zwischen den beiden fand ich putzig und nicht allzu aufdringlich; ich empfand es als glaubhaft, dass sie sich auf der Flucht vor der ominösen Behörde näherkommen. Diese strenggeheime, fiktive Behörde klang durchaus etwas nach Verschwörungstheorie, ich kann allerdings verstehen, dass Newman eine Regierungsvertretung, die keinerlei rechtlichen Restriktionen unterworfen ist, porträtieren wollte. Letztendlich kann ja niemand beweisen, dass es diese Männer und Frauen in Schwarz nicht gibt, die unschuldige Teenager quer über den Globus jagen.

 

„Coherent“ ist meiner Meinung nach ein gelungener SciFi-Jugendroman, der das Kunststück vollbringt, über die Grenzen der Geschichte hinaus verschiedene Altersgruppen anzusprechen. Während der jüngeren Leserschaft eine aufregende, futuristisch anmutende Handlung und nahbare Figuren geboten werden, können sich ältere Leser_innen wie ich zu unausgesprochenen Schlussfolgerungen stimulieren lassen. Das schafft nicht jedes Buch und spricht definitiv für Laura Newmans Talent. Nichtsdestotrotz hätte ich mir insgesamt eine kritischere Auseinandersetzung mit den Fähigkeiten ihrer Protagonistin gewünscht. Es ist vollkommen in Ordnung, dass sie auf den düsteren, mahnenden Zeigefinger verzichtete, doch sie hätte zumindest anklingen lassen können, dass diese nicht nur Vorteile haben. Wir sollten niemals vergessen, dass das Internet zwar ein Raum der Wunder ist – aber eben auch ein Raum voller Gefahren, Heimtücke und Illegalität.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/07/31/laura-newman-coherent
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review 2019-04-02 10:23
Lebe in vollen Zügen - als bestmögliche Version deiner selbst
Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie - Lauren Oliver,Katharina Diestelmeier

„Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie“ von Lauren Oliver begründete meine Liebe zu Young Adult – Literatur. Ich stolperte über diesen Roman, als ich gerade begann, meine Bibliothek zu organisieren, zu strukturieren und hemmungslos zu erweitern. Bücher spielten in meinem Leben immer eine Rolle, doch erst in dieser Phase fing ich an, mich wirklich für Literatur zu interessieren und mir eigenständig – ohne den Einfluss meiner Eltern – eine Sammlung aufzubauen. „Wenn du stirbst“ hatte erheblichen Anteil daran, dass ich Lesen als ernstzunehmendes Hobby begriff und war ein Meilenstein auf der niemals endenden Erforschung meines Literaturgeschmacks. Als ich im November 2018 für eine Challenge ein Buch lesen sollte, in der eine Figur denselben Tag wieder und wieder erlebt, beschloss ich daher, diese Aufgabe mit einem Reread dieses für mich sehr wichtigen Buches zu erfüllen.

 

Samantha Kingston starb am Abend des 12. Februars in einem Autounfall, der auch ihre drei besten Freundinnen Lindsay, Elody und Ally das Leben kostete. Deshalb ist Sam mehr als überrascht, als sie am nächsten Morgen einfach wieder in ihrem Bett aufwacht, als wäre nichts geschehen. War der Unfall ein Traum? Sam ist erleichtert und dankbar, am Leben zu sein, doch schon bald fallen ihr beunruhigend viele Parallelen auf. Es ist nicht morgen. Es ist exakt derselbe Tag, der 12. Februar. Wieder und wieder durchlebt Sam den Tag, an dem sie starb. Nichts ändert sich – nur sie selbst. Tief in ihrem Inneren weiß Sam, dass sie noch nicht bereit ist, zu gehen. Sie hat noch etwas zu erledigen. Ein Unrecht zu begleichen. Erst dann wird sie weiterziehen und Frieden finden können.

 

„Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie“ ist meiner Meinung nach noch immer ein absolut perfekter Young Adult – Roman. Es freut mich sehr, dieses Urteil fällen zu können, da ein Reread ja stets ein gewisses Risiko birgt. Einige Jahre nach der ersten atemberaubenden Lektüre nahm ich das Buch nun natürlich anders wahr – schließlich bin ich selbst gealtert und hoffentlich etwas gereift – doch ich empfand meine persönliche Weiterentwicklung nicht als hinderlich, sondern als Gewinn, obwohl ich jetzt noch weniger zur Zielgruppe zähle. Damals fand ich „Wenn du stirbst“ einfach nur großartig, bewegend und fesselnd. Heute bin ich in der Lage, zu analysieren, warum es ein hervorragendes Mysterydrama der Jugendliteratur ist. Das Buch bietet eine unglaubliche Bandbreite an Identifikationsmöglichkeiten, Emotionen und Themen, die vor allem für eine junge Leserschaft relevant sind, aber auch Erwachsene berühren können. Die intensive Mischung aus Mystik, Philosophie und selbstironischer Melancholie transportiert die Botschaft mühelos: jede Tat hat Konsequenzen und zieht Kreise, die nicht immer vorhersehbar oder überschaubar sind. Die Protagonistin Samantha und ihre drei besten Freundinnen Lindsay, Elody und Ally bilden eine Clique beliebter Mädchen, die vermutlich in jeder US-amerikanischen High-School zu finden ist. Sie genießen ihre Popularität, nutzen sie aus und finden es völlig normal, ihren Mitschüler_innen grausame Streiche zu spielen. Ihnen ist nicht klar, wie verletzend sie sich verhalten. Sie sind sich der fatalen Auswirkungen ihres Benehmens nicht bewusst. Das heißt jedoch nicht, dass in ihren eigenen Leben permanent eitel Sonnenschein herrschen würde. Sie alle haben ihr Päckchen zu tragen, was ich aus Sams Ich-Perspektive unmittelbar erfuhr. Obwohl sie nicht immer die besten Entscheidungen trifft, empfand ich eine intime Bindung zu ihr und verstand sie in jeder Sekunde. Darin besteht die Stärke der Autorin Lauren Oliver: es gelingt ihr, jugendliche Persönlichkeiten realistisch und facettenreich abzubilden, wodurch jede ihrer Handlungen nachvollziehbar ist. Das mehrmalige Erleben desselben Tages erlaubt Sam, hinter die Fassade der Menschen in ihrem Umfeld zu blicken, die sie bisher lediglich durch ihren persönlichen Filter sah. Sie lernt, wie begrenzt ihr Wahrnehmungsspektrum war und wie sehr unsere Leben miteinander verknüpft sind. Lauren Oliver holt aus der speziellen Struktur ihrer Geschichte das Maximum heraus. Die Ausgangssituation des 12. Februars ist immer gleich; Sam verändert lediglich Details und provoziert somit eine Vielfalt unterschiedlicher Reaktionen. Dadurch lernte ich alle Charaktere sehr umfassend kennen. Für mich ist Sam eine Heldin, die über sich hinauswächst und ihren Horizont im Alleingang erweitert, weil außer ihr niemand weiß, was los ist. Ihr Mut, sich dem Unangenehmen zu stellen und sich selbst zu reflektieren, ihr Wille, zu kämpfen und ihre Situation in die eigene Hand zu nehmen, beeindruckte mich zutiefst. Sie hätte ebenso gut weglaufen oder gar nichts verändern können – stattdessen versucht sie wirklich alles, um die Lage zu bessern. Erst für sich, dann für andere. Ich bewundere sie. Ihr Tod lässt Sam begreifen, wie wertvoll das Leben ist. Jedes Leben.

 

Meiner Ansicht nach ist „Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie“ der schriftgewordene Beweis, dass Young Adult – Literatur nicht schal oder oberflächlich sein muss. Ich gebe zu, dass die Lektion, die Lauren Oliver ihre Protagonistin Sam lehrt, etwas vorhersehbar ist. Dennoch finde ich, dass die Autorin Sams Reise zur Erkenntnis originell, ergreifend und inspirierend gestaltete. Es ist eine wahrhaft ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte, die die Probleme von Teenagern ernstnimmt und diese ohne idealistische Verklärung schildert. Der Tod ändert einfach alles. Er verschiebt Prioritäten, Wahrnehmung und stellt das Gewissen auf eine harte Probe. Möchtest du, dass auf deiner Beerdigung über dich als egoistische, gewissenlose Person gesprochen wird? Nein. Natürlich nicht. Deshalb finde ich die Botschaft, die Lauren Oliver vermittelt, so wichtig: lebe in vollen Zügen – als bestmögliche Version deiner selbst.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/04/02/lauren-oliver-wenn-du-stirbst-zieht-dein-ganzes-leben-an-dir-vorbei-sagen-sie
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review 2018-11-28 09:04
Graf Dracula als Strippenzieher der Weltgeschichte
Die Vampire - Kim Newman,Frank Böhmert

Als ich mir „Die Vampire“ von Kim Newman vornahm, erwarteten mich zwei Überraschungen. Zuerst erfuhr ich, dass Kim Newman ein männlicher Autor ist. Ich hatte mit einer Autorin gerechnet, weil… na ja, Vampire eben, dazu der Name – das klang für mich nach einer Frau. Ich musste meine Erwartungen anpassen, denn Männer schreiben gänzlich andere Urban Fantasy als Frauen. Kurz darauf musste ich diese noch einmal korrigieren, weil „Die Vampire“ entgegen meiner Annahme kein Einzelband ist. Der Titel täuscht. Es ist eine Sammelausgabe der ersten drei Bände der Reihe „Anno Dracula“, die aktuell insgesamt fünf Bände umfasst. Das erklärte, wieso das Buch 1.280 Seiten dick ist. Aufhalten ließ ich mich davon natürlich nicht. Ich richtete meine Erwartungshaltung und begann die Lektüre.

 

Das britische Empire ist in Aufruhr. Seit es Abraham Van Helsing misslang, den gefürchteten Vampir Graf Dracula, zu Lebezeiten als Vlad Țepeș bekannt, zu töten, nahm die Geschichte einen unheilvollen Verlauf. Dracula nutzte seine manipulativen Fähigkeiten, um sich seinen Weg in das Herz der Macht zu bahnen: er heiratete Queen Victoria und verwandelte sie. Nun regiert er als Prinzgemahl über das Königreich. Vampirismus breitet sich aus wie eine Seuche. Erst in England, in den engen Gassen Londons, in denen der Ripper sein Unwesen treibt; dann in Europa, in den dreckigen Schützengräben des Ersten Weltkriegs; dann auf dem ganzen Erdball. Die Verzweifelten, die Hoffnungslosen, die Vergessenen – sie alle lockt die dunkle Gabe. Einige wenige trotzen Dracula und weigern sich, den Preis für das Versprechen auf Unsterblichkeit zu zahlen. Doch der Wandel ist nicht aufzuhalten. Die Welt wird nie mehr sein, wie sie einmal war. Nur die Entscheidung, ob in dieser neuen Welt Finsternis herrscht, ist noch nicht gefallen…

 

Häufig werden Vampire in Urban Fantasy – Romanen nur als Ergänzung des reellen Weltbildes installiert. Sie existieren verborgen am Rande der sterblichen Wahrnehmung, interagieren kaum mit der menschlichen Gesellschaft und bleiben unter sich. Diese Herangehensweise funktioniert meist, verlangt jedoch nur begrenztes Worldbuilding. Es ist einfach. So leicht macht es sich Kim Newman nicht. „Anno Dracula“ ist ein ambitioniertes UF-Projekt, in dem sich der britische Autor ernsthaft mit der Idee eines alternativen Geschichtsverlaufs auseinandersetzt. Er untersucht die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen eines machthungrigen Vampirs an der Regierungsspitze, der seine wahre Natur offen zur Schau trägt, zelebriert und bewusst einsetzt, um seine Position zu untermauern. Newmans glaubhafte, durchdachte Darstellung dieser Konsequenzen überzeugte und beeindruckte mich. Die drei Bände („Anno Dracula“, „Der Rote Baron“ und „Dracula Cha-Cha-Cha“) die „Die Vampire“ bündelt, sind absolut keine Spinnerei. Hat man sich als Leser_in mit der Prämisse abgefunden, dass Vampire existieren, erscheint die Handlung jedes Bandes vollkommen logisch, weil Newman detailliert schildert, inwiefern die neue, vielfältige Gattung der Vampire die reale Weltgeschichte konkret beeinflusst hätte. Er orientiert sich strikt an historischen Ereignissen und passt diese lediglich an. Dadurch entsteht das äußerst realistische Bild einer Welt, in der Vampirismus Wirklichkeit ist, kein Mythos. Die Mischung aus Fakt und Fiktion ist ausgewogen gelungen. Die Leser_innen werden von einer abwechslungsreichen Melange wiederkehrender und neuer Figuren durch jeden Band geführt, die sowohl auf historische als auch literarische Persönlichkeiten treffen und aktiv an geschichtsträchtigen Geschehnissen teilnehmen. Sie vermitteln durchaus Individualität, erfüllen jedoch primär eine Funktion in ihrer Handlung, wodurch Sympathie nicht relevant ist. Interessanterweise ist Graf Dracula selbst kein Perspektivcharakter. Obwohl er der Reihe ihren Namen gibt und in jedem Band auftaucht, fungiert er eher als graue Eminenz der übergreifenden Geschichte, die diese aus dem Hintergrund lenkt. Ich begegnete ihm, lernte ihn aber nicht kennen, weil seine Auftritte kurz und distanziert waren. Vielleicht hätte sich etwas mehr Bewegungsspielraum für Dracula positiv auf die Bewertung ausgewirkt. „Die Vampire“ ist ein bemerkenswertes politisches Gedankenspiel mit einem faszinierenden Konzept – doch leider ist es weitschweifig, dröge und schleppend. Ich fand es äußerst theoretisch, denn handfeste Spannung ist ein untergeordnetes Element. Es zieht sich. Viel versteckt sich zwischen den Zeilen, sodass ich oft erst spät verstand, worauf Kim Newman hinauswollte und welche Entwicklungen er implizierte. Echten Lesespaß empfand ich ausschließlich während der Lektüre des zweiten Bandes „Der Rote Baron“, der zur Zeit des Ersten Weltkriegs spielt. Diesen verdankte ich allerdings hauptsächlich meinem Mann, mit dem ich meine Leseerfahrung teilen konnte, weil er sich auf diesem Themengebiet gut auskennt und mir Fragen zum geschichtlichen Kontext beantworten konnte. „Die Vampire“ selbst war selten ein Quell der Freude.

 

Ich halte „Die Vampire“ für eine anspruchsvolle Mischung aus Urban Fantasy und Historischer Fiktion, die glaubwürdig zeigt, was eine Einmischung von Vampiren in die Weltgeschichte bedeutet hätte. Es ist erschreckend, wie folgenreich ein einziges Detail sein kann. Van Helsing verbockt es, Dracula zu pfählen und die Welt wird von Vampiren geflutet. Kim Newman erfasst die realistischen Implikationen dieser fiktiven Ausgangssituation hervorragend und imponierte mir durch seine präzisen, akribischen Schilderungen. Leider empfand ich die Lektüre jedoch nicht als spannende Unterhaltung, sondern als akademische Übung, die mir zu wenig emotionales Engagement aufwies. Es fühlte sich an, als würde ich kühl ein Experiment beobachten und protokollieren. Dadurch entstand ein prekäres Ungleichgewicht meiner Wahrnehmung: „Die Vampire“ erfreute mein Hirn weit mehr als mein Herz.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2018/11/28/kim-newman-die-vampire
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text 2017-08-30 11:07
Taugt maximal als Trinkspiel
Schwarzes Blut - Roger Smith,Max Wilde

„Schwarzes Blut“ von Max Wilde ist ein Mängelexemplar vom Grabbeltisch, das ich vor einigen Jahren erbeutete. Ich erinnere mich, dass der wenig aussagekräftige Klappentext meine Neugier entfachte. Damals wusste ich nicht, dass Max Wilde das Pseudonym des erfolgreichen südafrikanischen Thriller-Autors Roger Smith ist, dessen Roman „Kap der Finsternis“ 2010 den zweiten Platz beim Deutschen Krimipreis belegte. „Schwarzes Blut“ erschien bei Heyne Hardcore, einer gesonderten Sparte des Verlags, die neben einem Angebot von Musik- und Erotikliteratur auf grenzwertige, sehr blutige und brutale Horrorliteratur spezialisiert ist. Kurz, ich wusste, worauf ich mich einließ.

 

Skye weiß, dass sie verfolgt wird. Sie kann die Männer hinter sich hören. Sie hat Angst. Nicht davor, dass sie ihr wehtun könnten, sondern davor, dass der Andere die Kontrolle übernimmt, wenn sie sie verletzen. Seit sie zurückdenken kann, teilt sie ihren Körper mit diesem… Ding, einem Monster, das sich unter ihrer Haut verbirgt und unerträgliche Gelüste hat. Skyes Wachsamkeit darf niemals nachlassen, denn die Konsequenzen wären furchtbar. Für sie selbst, für ihren Adoptivbruder Gene und für ihren kleinen Neffen Timmy. Ist der Andere frei, sterben Menschen. Skye ahnt nicht, dass ihre Verfolger erst der Anfang sind. Da draußen lauert jemand, der die Wahrheit über sie kennt. Jemand, der mehr über ihre Herkunft weiß, als sie selbst. Jemand, der nur ein Ziel verfolgt: er will den Anderen.

 

Herzlichen Glückwunsch Max Wilde aka Roger Smith! „Schwarzes Blut“ ist meine erste 1-Stern-Bewertung des Jahres 2017! Jawohl, ich schrieb, ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich mir dieses Buch vornahm. Ich hatte vorher sogar wohlweislich einige Rezensionen gelesen, die tendenziell stark auseinanderdrifteten. „Faszinierend und erschreckend“ hieß es da, aber auch „eklig“ und „bestialisch“. Als stolze Schlachten-Veteranin bin ich wahrlich nicht zartbesaitet; ich nahm an, dass die negativen Rezensionen von Leser_innen stammten, die sich versehentlich ins falsche Genre vorgewagt hatten. Kann ja mal passieren. Ich hätte nicht erwartet, dass ich mich ihrem Urteil anschließen muss. „Schwarzes Blut“ ist buchstäblich das widerlichste, abstoßendste, ekelerregendste Buch, das ich jemals gelesen habe. Es ist ein Fall für Trigger- und Jugendwarnungen auf dem Cover. Es löste in meinem Kopf eine hitzige Debatte mit mir selbst hinsichtlich einer FSK für Bücher aus. Zugegeben, ich habe mit Hardcore-Literatur keine Erfahrung, aber wenn die entsprechenden Bücher alle so sind wie dieses, möchte ich diesen Umstand keinesfalls ändern. Bäh. Würg. Ich habe mit Gewaltdarstellungen keine Schwierigkeiten, ich kann Horrorfilme (für die Kenner: Exploitation) bereits zum Frühstück sehen, doch dieses … nennen wir es mal neutral Werk, sprengt selbst meine Grenzen. Das Problem ist, dass „Schwarzes Blut“ Gewalt um der Gewalt willen abbildet und ansonsten grottenschlecht ist. Die Story ist fadenscheinig, absurd und völlig sinnentleert. Selbst wenn man akzeptiert, dass die Protagonistin Skye ihren Körper mit einer Art Dämon teilt, der einen gesunden Appetit für Menschenfleisch pflegt, ist das ganze Konstrukt rettungslos unrealistisch. Skyes Verwandlungen (jap, Plural) in den Anderen sind lächerliche HULK-Gedächtnis-Momente, samt schwellenden Muskeln und reißenden Klamotten. Es gibt eine Vielzahl aufgesetzter, unechter Charaktere, die in schöner Regelmäßigkeit abgeschlachtet werden, eine psychiatrische Abteilung aus der Hölle und einen undefinierbaren Brei aus Okkultismus, Korruption, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch und Drogenhandel. Es wird gefoltert, aufgeschlitzt, gewürgt, erschossen, zerstückelt, enthauptet, vergiftet, gefressen. Die extrem expliziten, voyeuristischen Beschreibungen sollen die Leser_innen schockieren, das ist die Quintessenz von „Schwarzes Blut“. Alle Elemente der Handlung dienen lediglich dazu, dieses Schlachtfest, diese Gewaltorgie irgendwie zu verbinden, komme was wolle. Max Wilde aka Roger Smith schmeißt einfach alles, was irgendwie gruselig, gefährlich und abartig ist, in einen großen Topf, stellt die Flamme auf Anschlag und rührt kräftig durch. Was dabei herauskommt, ist dieses Buch. Ich hangelte mich von Kapitel zu Kapitel, verlor immer mal wieder den Faden und konnte einfach nicht fassen, dass irgendein Verlag diesen Dreck überhaupt mit der Kneifzange anfassen würde. Nein, ich entschuldige mich nicht für das Wort „Dreck“, denn ein Manuskript, das dermaßen gewaltverherrlichend ist, verdient es nicht besser. Es ist eine Sache, scheußliche Darstellungen zu verwenden, um etwas zu vermitteln, irgendeine Botschaft, ein Motiv, eine Moral, eben IRGENDETWAS, aber wenn es dabei offenbar nur um eine perverse Freude an Blut, Folter, Mord und Tod geht, läuft meiner Meinung nach etwas falsch. Da drängt sich die Frage auf, nein, sie springt mir geradezu ins Gesicht, was es über den Autor aussagt, dass er so etwas schreibt.

 

Ihr mögt es blutig? Ihr mögt es brutal? Nur zu, ich urteile nicht über euch. Aber bitte, bitte, bitte lasst die Finger von „Schwarzes Blut“, die Begeisterung für grenzwertige Literatur in allen Ehren. Das Buch ist schlecht, so einfach ist das. Da kann es noch so explizit und farbenfroh sein oder eine spezielle Zielgruppe ansprechen, eine miese Geschichte bleibt eine miese Geschichte. Ich muss zugeben, dass ich von einem etablierten, preisgekrönten Krimi-Autor weit mehr erwartet hatte. Wenn er seine verdrehten Fantasien literarisch verarbeiten möchte, ist das für mich vollkommen in Ordnung, weil dieses Ventil zumindest harmlos ist, aber ein gewisser Qualitätsanspruch muss gestattet sein. In dieser Form taugt „Schwarzes Blut“ meiner Ansicht nach nur als Trinkspiel für Hartgesottene. Kippt man bei jedem Toten einen Kurzen, ist man am Ende der 320 Seiten garantiert ordentlich betrunken. Und vielleicht ein wenig traumatisiert.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/08/30/max-wilde-schwarzes-blut
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review 2017-04-12 10:05
Meggies Reise zwischen die Worte
Tintenblut (Tintenwelt, #2) - Cornelia Funke

Nach meinem Fiasko mit „Tintenherz“, dem ersten Band von Cornelia Funkes „Tintenwelt“ – Trilogie, brauchte ich lange, um mich zur Lektüre der Fortsetzung zu überwinden. Die Enttäuschung hallte nach. Über ein Jahr traute ich mich nicht an „Tintenblut“ heran, obwohl meine Ausgangssituation wesentlich erfolgsversprechender aussah. Ich wusste nichts über das Buch und hatte daher auch keine übersteigerten Erwartungen, die meine Leseerfahrung negativ beeinflussen konnten. Ich musste meine Zweifel jedoch erst abklingen lassen, bis ich „Tintenblut“ eine faire Chance einräumen konnte. Als ich soweit war, verlor ich keine Zeit mehr.

 

Im Leben der Familie Folchart ist Frieden eingekehrt. Mo, Meggie und Resa sind bei Ellinor eingezogen. Langsam verblasst der Schrecken der furchtbaren Ereignisse in Capricorns Dorf. Für Meggie ist die Faszination der Tintenwelt ungebrochen. Noch immer träumt sie davon, die Magie von Fenoglios Welt am eigenen Leib zu spüren. Sie versuchte sogar – erfolglos und natürlich heimlich – sich selbst in die Geschichte hineinzulesen. Als eines Abends der verzweifelte Farid an ihre Tür klopft, erreicht Meggies unbändige Neugier einen neuen Höhepunkt. Er berichtet, dass Staubfinger nach all den Jahren heimgekehrt ist – ohne ihn. Ein Mann namens Orpheus las ihn in die Tintenwelt zurück. Jetzt wünscht sich Farid nichts sehnlicher, als ihm zu folgen und fleht Meggie an, ihm zu helfen. Unter einer Bedingung sagt sie zu: sie will Farid begleiten, obwohl es ihren Eltern das Herz brechen wird. Gemeinsam öffnen sie die Tür zwischen den Worten und stürzen in das Abenteuer einer Welt, die nicht einmal mehr ihr Schöpfer unter Kontrolle hat.

 

Ich wusste es. Ich wusste, dass sich Millionen begeisterter Leser_innen nicht irren können. „Tintenblut“ gefiel mir viel besser als „Tintenherz“. Durch meine bewusst gewählte Unvoreingenommenheit konnte ich Meggies zweites Abenteuer wahrhaft genießen und verstehe endlich, warum die Trilogie weltweit von Jung und Alt nahezu vergöttert wird. Die Liebe zum Lesen und zu Büchern ist auf jeder Seite spürbar. In ihrem klaren Schreibstil, der von märchenhafter Schlichtheit geprägt ist und bei mir besonders durch die herrlich fantasievolle Namensgebung punktet, spielt Cornelia Funke mit der Idee, Bücherwürmer die Geschichte ihres Lieblingsbuches betreten zu lassen. Folglich dreht sie das Ausgangskonzept der Trilogie, das sie in „Tintenherz“ vorstellte, auf den Kopf, weil es nun nicht länger darum geht, Figuren aus einem Buch herauszulesen, sondern darum, Leser_innen in ein Buch hineinzulesen. Meggie möchte die Tintenwelt selbst erleben; sie möchte sie sehen, riechen, schmecken und fühlen – wer kann es ihr verübeln? Gerade Fantasy-Welten haben eben ihren speziellen Reiz. Die Tintenwelt ist keine Ausnahme – ich kann verstehen, dass Meggie wild darauf ist, ihre Wunder live und in Farbe zu erfahren. Ihre Reise zwischen die Worte ist erwartungsgemäß gefährlich, was in einer spannenden, mitreißenden Handlung mündet, die lediglich auf den letzten 150 Seiten etwas zäh und ziellos wirkt. Die Tintenwelt hat mittlerweile unbestreitbar ein Eigenleben entwickelt, das sich sogar der Kontrolle des Autors Fenoglio entzieht. Dieser spielt in „Tintenblut“ eine wichtige Rolle, ich muss jedoch gestehen, dass ich ihn furchtbar anstrengend fand. Sein arroganter Besitzerstolz der Tintenwelt und ihren Bewohner_innen gegenüber ist meiner Meinung nach vollkommen unangemessen, weil er sich längst nicht mehr in „seiner“ Geschichte befindet. Das sollte ihm klar sein. Sie wurde in dem Moment unabhängig, als Mo seine Frau Resa hinein- und Staubfinger, Basta und Capricorn herauslas. Bedenkt man, wie gravierend diese Veränderungen waren, erscheinen mir die Auswirkungen erstaunlich bescheiden und zurückhaltend. Cornelia Funke gibt sich milde. Die Figuren können von Glück sprechen, dass die wiederholten, schweren Eingriffe in die Geschichte nicht ihre gesamte Welt erschütterten. Selbstverständlich sind Konsequenzen sichtbar, doch weder wurden Naturgesetze außer Kraft gesetzt, noch Verwüstung oder Zerstörung angerichtet. Als Staubfinger zurückkehrt, erkennt er seine Heimat sofort wieder, was der deutlichste Hinweis darauf ist, dass die Seele der Tintenwelt unbeschädigt blieb. Staubfinger ist mit Abstand mein Lieblingscharakter. Ich habe mein Herz an ihn verloren. Er ist mutig, anständig und rechtschaffen, trotz seiner tragischen, unglückseligen Vergangenheit. Seine Ernsthaftigkeit berührt mich; ich habe das Gefühl, es lohnt sich ungemein, ihm zuzuhören. Außerdem ist sein Spiel mit dem Feuer zweifellos eine der faszinierendsten Fähigkeiten, die mir bisher begegnet sind, weil sie so elementar zu sein scheint. Keine Künstlichkeit, keine hart erlernten Lektionen, nur Staubfinger und die Flammen, die mystisch miteinander verbunden sind.

 

Dürfte ich zwischen die Seiten meiner Lieblingsbücher reisen, ich glaube, ich wäre enttäuscht. Vermutlich würde ich mich permanent als Fremdkörper fühlen, der dort nicht hingehört. Auch Meggie hat in der Tintenwelt eigentlich keinen Platz, doch das hält sie nicht davon ab, diese gierig aufzusaugen und jede noch so kummervolle Sekunde auszukosten. Da frage ich mich doch, was Meggie und mich unterscheidet. Vielleicht ist es das Alter. Ich denke, mit 13 Jahren sind Leser_innen zu größerer Hingabe fähig, was auch der Grund sein könnte, warum mir „Tintenblut“ nur 4 statt 5 Sternen wert ist. Wäre ich mit dieser Geschichte aufgewachsen, meine Leidenschaft wäre grenzenlos. Heute fällt es mir schwerer, mich dem kindlichen Abenteuerflair des Buches zu öffnen und mich in der märchenhaften Atmosphäre zu verlieren. Nichtsdestotrotz kann ich erkennen, wie wertvoll „Tintenblut“ besonders für ein jüngeres Publikum ist und bin definitiv in der Lage, Cornelia Funke dafür Tribut zu zollen. Es ist eine tolle Fortsetzung. Ich bin froh, nach „Tintenherz“ nicht aufgegeben zu haben.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/04/12/cornelia-funke-tintenblut
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