Am Tag nachdem schon wieder herauskam, dass ein Österreicher in Holland seine Kinder in einem Verließ im Keller eingesperrt hat (was ist eigentlich los mit meinen männlichen Landsleuten, die Häufung derjenigen Psychopathen, die komplett auf diese perfide Art eine Schraube locker haben, ist mittlerweile schon auffällig), machte ich mich an die Arbeit, dieses Buch im Rahmen der die Autorinnenchallenge für Irland zu besprechen. Ihr seht also, diese Straftat einmal aus der Sicht der Opfer zu betrachten, ist topaktueller denn je.
Die Empfehlung für dieses mir völlig unbekannte Buch kam von meinem Goodreads Freund Semjon, und ich bin sehr froh und dankbar dafür, weil ich den Roman zwar furchtbar im Thema, aber als Psychogramm der Opfer richtig gut ausgeführt fand. Zudem habe ich noch rausgefunden, das es hierzu auch noch einen guten Film geben soll, der wäre für meine Book2movieambitionen auch noch sehr interessant.
Viele meiner Buchfreunde mögen sich wundern, warum mich solche Themen, die sich mit dem Bösen intensiv beschäftigen, besonders interessieren, und ich möchte Euch das genauer erläutern, denn es ist weder mein Beruf noch Sensationsgeilheit, die mich zu solchen Stoffen bringen. Für mich sind solche Taten und Menschen nicht so abstrakt, wie für viele andere, denn ich wohne in der Stadt, in der Herr Mayrhoff (ehemals Fritzl) einsitzt (Justizanstalt Krems-Stein). Wir alle leben mit dieser Institution in der Nachbarschaft. Mein Büro der Donau-Uni Krems sah früher direkt vom 3. Stock in den Innenhof des Gefängnisses, ich bin mit der Schließerin (Justizwachebeamtin) befreundet, die Herrn Fritzl jeden Tag sieht und auch die Therapeutin kenne ich gut. Die Donau-Uni arbeitet auch mit der Justizwachanstalt im Bereich Druckerei (Folder, Masterthesen) zusammen und früher, als wir als Universität noch kleiner waren, und keine Mensa und Gastro-Infrastruktur hatten, gingen wir mit einigen Kursen (zum Beispiel Lehrerweiterbildung von 1997-2000) zwei Mal wöchentlich in die Gefängniskantine essen. Wir hatten also sehr viel mit Mitarbeitern aber auch gelegentlich in der Kantine mit Gefangenen, die kurz vor der Entlassung stehen, zu tun.
Wenn frau so konkret hautnah und permanent mit dem Bösen konfrontiert ist, möchte zumindest ich eher mehr über so ein Thema wissen, als weniger. Dieses Thema zu verdrängen und den Kopf in den Sand zu stecken, hilft mir persönlich gar nix. Deshalb habe auch schon viele Sachbücher über die Psychologie des Bösen von Profilern gelesen und auch andere Artikel zu dem Thema. Ach ja, dieses Thema beschäftigt mich schon sehr lange aus diesem Grund, denn ab meinem 12 Lebensjahr wohnte ich zufällig in Steyr und war mit der anderen Schwerverbrecheranstalt Steyr-Garsten konfrontiert, in der die restliche Hälfte der größten Psychopathen und Massenmörder Österreichs einsaß.
Der erste Teil der Story erinnert also sehr frappant an die wahre Geschichte mit Herrn Fritzl - sorry Mayerhoff heißt er ja jetzt - nur dass weniger Kinder im Verließ sind. Nämlich nur eines. Die Geschichte ist wie gesagt sehr gut aus der Opferperspektive – respektive aus der Sicht des gerade mal fünfjährigen Jungen geschildert und zudem sowohl von der psychologischen Sicht als auch von der Sprache her sehr authentisch.
Manche Leser waren von den Fehlern bei unregelmäßigen Verben und den Artikelfehlern des Kindes sehr genervt. Abgesehen davon, dass gerade Kinder zwischen vier und sechs Jahren genau solche Fehler in der Sprachentwicklung machen, dies somit total authentisch ist, kam ich sehr schnell über diese Fehler hinweg, ich verstehe ja auch im realen Leben, wenn so junge Kinder mit genau denselben Fehlern mit mir kommunizieren, was sie wollen und ärgere mich nicht darüber.
Der kleine Jack lebt also mit seiner Mutter in einem ein paar Quadratmeter großen Verließ und hat das „Draußen“ noch nie gesehen, Im Gegenteil, er weiß bis zu seinem fünften Geburtstag überhaupt nicht, dass eine andere Welt jenseits seines Gefängnisses überhaupt existiert. Lediglich der Fernseher zeigt, ihm eine andere Welt, aber er glaubt, diese sei nicht real. Am fünften Geburtstag eröffnet ihm seine Mutter, dass einige Sachen im Fernseher doch real sind, dabei kann das Kind aber zu Beginn nicht unterscheiden, ob die Zeichentrickfilme auch dazugehören oder nicht. Warum die Mutter das gemacht hat? Weil sie ihr Kind liebt und abschirmen wollte. Was nützt es, von einer fremden Welt zu wissen, wenn man in einem Raum eingesperrt ist. In völliger Unkenntnis ist die Gefangenschaft besser zu ertragen. Auch ansonsten ist die Mutter sehr liebevoll, sie beschäftigt sich mit ihrem Sohn, bringt ihm Sprache und Rechnen bei, bastelt liebevoll aus den Essensresten Spielzeug, achtet im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf die Gesundheit, die Fitness und den Fernsehkonsum ihres Sohnes und versucht ihr Kind auch sonst vor allem zu beschützten.
Als LeserIn werden wir komplett in die tägliche und wöchentliche Routine involviert, die tiefe liebevolle Mutter-Kind-Beziehung, die permanenten Vergewaltigungen der Mutter, das Arrangement mit und die Unterwerfung unter den Peiniger, um den Sohn zu schützen und Kerkervergünstigungen wie zum Beispiel Essen oder Spielzeug oder einfach Güter des täglichen Bedarfs zu erhalten.
Erst gestern haben wieder viele sehr dumme Leute in Facebook behauptet und diskutiert, dass es völlig unrealistisch wäre, dass die Opfer in Holland nicht wussten, dass es eine Welt da draußen gibt. Die sollten sich vielleicht mal die Mühe machen, dieses gut konstruierte Psychogramm zu lesen oder mit einem Psychiater reden. Genau deshalb plädiere ich dafür, dass man sich sowas aus Opfersicht zumindest einmal anschaut, wenn man es aushält.
Der Kleine Jack ist also nun fünf Jahre alt, nach Meinung der Mutter nun deshalb groß genug für die Wahrheit über die Welt da draußen und auch dafür, dass er als Held beide aus dem Kerker erretten kann. Viel Verantwortung für so ein kleines Kind, aber die Mutter fürchtet, dass sich die Aufmerksamkeit ihres Peinigers mit fortschreitendem Alter nicht nur auf sie, sondern auch auf das Kind richtet. Minutiös und akribisch plant die Mutter den Ausbruch aus dem Gefängnis und wiederholt permanent die Aufgaben des Kindes Jack, den Peiniger Old Jack zu überlisten. Mammamia, dieser Teil der Geschichte war extrem nervenzerfetzend spannend. Die Flucht glückt, und der Junge läuft letztendlich der Polizei in die Arme.
Was dann kommt, ist aber noch grandioser, denn die Geschichte ist ja erst zur Hälfte erzählt. Nach der Rettung wird also nicht abgeblendet, alles ist gut und die Opfer werden mit den Traumata schon irgendwie zurechtkommen. Im Gegenteil, der mühsame Weg zurück in ein normales Leben unter Hilfe und Anleitung der Ärzte, Psychologen und der Familie der Mutter wird ebenso grandios und detailliert geschildert wie vorher die Tagesroutine im Kerker. Die Eingewöhnungsphase von Mutter und Sohn in die "normale" Welt, der Umgang mit der Reizüberflutung, dem Lärm und dem ganzen Draußen und dann auch noch die Trennung von Mutter und Sohn. Hier schildert die Autorin sehr sensibel und entwicklungspsychologisch konsistent konstruiert die Probleme, die Lösungen, die Konflikte, aber auch das lustvolle Entdecken der realen neuen Welt, die Annäherung und die Liebe, die letztendlich ein einigermaßen normalen Umgang mit der Umwelt und einen Abschluss des Traumas einleiten.
Genauso wurden übrigens auch die Kinder der Familie Fritzl und auch Natascha Kampusch in einer psychiatrischen Anstalt betreut.
Fazit: Nicht für jeden geeignet, da der Roman in seiner ganzen Authentizität und in seinem grausamen Realismus richtig starker Tobak ist. Vor allem weil die Geschichte ja nicht nur fiktiv ist, genau solche schrecklichen Verbrechen nun schon dreimal in diesem Jahrtausend passiert sind. Ein qualitativ hochwertiges, grandios gemachtes Psychogramm aus Opfersicht, das man sich nicht entgehen lassen sollte, sofern man es aushält. Der Roman ist aber eben nicht der effektheischende Skandalthriller, sondern stellt die Opfer und ihre Überlebens- und Bewältigungsstrategien in den Vordergrund. Absolute Leseempfehlung von mir!