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review 2019-05-16 21:18
Es liegt nicht an Ihnen, Mr. Cronin - es liegt an mir
The City of Mirrors - Justin Cronin

Das Finale der „The Passage“-Trilogie, „The City of Mirrors”, erschien im März 2016, sechs Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Bandes „The Passage“ – deutlich später als geplant. Diese Verzögerung hatte einen spezifischen Grund. 2012 wurde beim Autor Justin Cronin Prostatakrebs diagnostiziert. Er musste sich einer schweren, mehrstündigen Operation unterziehen. Soweit ich weiß, geht es ihm heute gut, aber natürlich veränderte diese Erfahrung seinen Blick auf das Leben und die Geschichte, die er erzählen wollte. Es kostete ihn Zeit, herauszufinden, wie er seine neue Wahrnehmung, die sich unter anderem in gesteigerter Religiosität äußert, in „The City of Mirrors“ einfließen lassen wollte, obwohl das Ende der Trilogie von Anfang an feststand. Geschichten sind letztendlich eben immer auch Spiegelbilder ihrer Schöpfer_innen.

 

Die Virals sind verschwunden. Seit 20 Jahren wurden keine Infizierten gesichtet. Langsam beginnen die Menschen, der Sicherheit zu trauen. Sogar Peter, obwohl er sich noch immer fragt, was nach ihrem verheerenden Kampf gegen die Zwölf mit Amy geschah und ihn seltsame Träume quälen. Tagsüber ist er ein verantwortungsbewusster Vater, doch nachts entschwindet er in eine betörende Fantasiewelt. Der optimistische Ausbau der Städte lenkt ihn nur bedingt von seinem grotesken Doppelleben ab. Sein alter Freund Michael Fisher hingegen beteiligt sich nicht am Wiederaufbau der Zivilisation. Er widmet seine ganze Energie einem verrückten Plan, um die Menschheit zu retten, weil er nicht daran glaubt, dass die Virals wirklich ausgelöscht sind. Er hat Recht. Einer ist noch übrig. Der Eine, klüger, gerissener und boshafter als alle anderen. Der Erste, der je infiziert wurde: Zero…

 

Ich verstehe voll und ganz, dass Justin Cronin die transformative Wirkung seiner Krebserkrankung in „The City of Mirrors“ zu verarbeiten versuchte. Leider ändert mein Verständnis für den Autor nichts daran, dass ich das Finale der hochgelobten „The Passage“-Trilogie etwas enttäuschend fand. Ich möchte nicht streng oder missgünstig wirken, doch die Schwierigkeiten, die ich bereits mit „The Twelve“ hatte, setzten sich fort und verstärkten sich sogar. „The City of Mirrors“ kreist um Zero, der einst Tim Fanning hieß und das Virus als Patient Null in die USA brachte. Sein Schicksal bestimmt den Inhalt des Trilogieabschlusses, da er der letzte noch lebende Meister-Viral ist. Dennoch ist er anders als die Zwölf, was seine Vorgeschichte, die Cronin als spannende Binnenerzählung intensiv und ausführlich vorstellt, unmissverständlich illustriert. Fanning war ein kluger, gebildeter, kultivierter Wissenschaftler, kein Verbrecher, der in der Todeszelle auf seine Hinrichtung wartete. Er beteiligte sich an der Expedition in den bolivianischen Dschungel, um einem schmerzhaften Verlust zu entkommen. Diese düsteren Emotionen färbten seine Mutation, weshalb er meiner Ansicht nach der gefährlichste aller Virals ist. Zero ist ein manipulativer Verführer, der die Welt in seinem Schmerz ertränken will. Ich erfuhr, dass vieles, was bisher geschah, ihm anzurechnen ist. Obwohl ich seine einfühlsame Charakterisierung glaubwürdig fand, arbeitete Justin Cronin Zero meiner Meinung nach jedoch zu spät in die Handlung ein. Mir fehlte in den Vorgängerbänden seine Handschrift, das Gespür für seine subtilen Manipulationen und die Relevanz seiner Rolle. Hätte Cronin eher begonnen, diese zu etablieren, wären die extremen Zeitsprünge, die er in „The City of Mirrors“ vornimmt und die mir erhebliche Probleme bereiteten, weil ich die Figuren mental nicht angemessen altern lassen konnte, vielleicht unnötig gewesen. So musste er die Menschheit über einen Zeitraum von 20 Jahren erst davon überzeugen, dass die Virals Vergangenheit sind, um die finale Konfrontation mit Zero vorzubereiten. Diese findet in New York statt und involviert neben Zero vier Hauptfiguren, die Cronin meinem Empfinden nach sehr ungerecht und hart behandelt. Niemand erhält das Happy End, das ich ihnen gewünscht hätte. Paradoxerweise fand ich den Abschluss der Trilogie selbst, die ihr Ende in einem äußerst langgezogenen Epilog 1000 Jahre später findet, hingegen zu optimistisch. Ich denke, Cronin tat sich keinen Gefallen damit, dass er sich auf diesen Verlauf bereits im ersten Band festlegte. Zwar erkenne ich an, dass es grundsätzlich schwierig ist, ein Epos dieser Dimension befriedigend abzuschließen, aber das Szenario, das er vorschlägt, war mir zu kuschlig-friedlich und kulminiert aufdringlich die religiös-spirituellen Motive, die in „The City of Mirrors“ ohnehin prominenter sind als in den Vorgängern. Das Buch stützt sich stark auf absurde, praktische Zufälle, die Cronin indirekt mit göttlichem Eingreifen erklärt, was die plausible wissenschaftliche Ebene untergräbt. Für mich hat in diesem Finale einfach alles nur halb gestimmt.

 

Direkt nach der Lektüre war ich sehr versucht, „The City of Mirrors“ lediglich mit zwei Sternen zu prämieren. Ich war enttäuscht und unzufrieden und hatte das Gefühl, ich müsste dieser Negativität unbedingt Luft machen, weil ich so viel Zeit mit der „The Passage“-Trilogie verbracht hatte. Diese Bewertung wäre Justin Cronin jedoch nicht gerecht geworden. Er mag nicht das Ende geschrieben haben, das ich mir gewünscht habe, aber ich kann und möchte nicht außer Acht lassen, wie viel Aufwand er in sein detailliert ausschattiertes Universum und die komplexe Geschichte seiner Trilogie investierte. Ich werde ihn nicht dafür abstrafen, dass er inhaltliche Entscheidungen traf, die nicht meinem Geschmack entsprechen, weil „The City of Mirrors“ dennoch ein gutes Buch ist, ebenso wie es sich bei „The Passage“ insgesamt um einen imposanten Dreiteiler handelt. Meine objektive und subjektive Wahrnehmung sind sich nicht einig, weil ich offenbar eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatte, wie die Geschichte zu enden hat. Mr. Cronin, es liegt nicht an ihnen – es liegt an mir.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2019/05/16/justin-cronin-the-city-of-mirrors
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review 2017-07-12 11:05
Ich werde wohl nie ein Fan der Chic-Lit
P.S. Ich liebe Dich - Cecelia Ahern,Christine Strüh

Einst schwor ich, sollte mir jemals ein Chic-Lit-Roman begegnen, der mein Interesse weckt, würde ich ihm eine Chance geben. Im April 2017 ging ich an der Buch-Telefonzelle vorbei, die bei uns in der Nähe aufgestellt ist. Einem Impuls folgend schaute ich mir an, welche Bücher dort aktuell auf ein neues Zuhause warteten und hielt plötzlich „P.S. Ich liebe Dich“ von Cecelia Ahern in der Hand. Ich kannte die Geschichte bereits, denn vor Jahren hatte ich die Verfilmung mit Gerard Butler und Hilary Swank gesehen. Ich mochte den Film, also entschied ich meinem Vorsatz entsprechend, es mit dem Buch zu versuchen. Gekauft hätte ich es sicherlich nicht, aber da ich es umsonst ergatterte, fand ich, ich hätte nichts zu verlieren.

 

Man sagt, stirbt ein geliebter Mensch, stirbt ein Teil von uns mit ihm. Als Gerry starb, verlor Holly nicht nur ihren Ehemann, ihren besten Freund und ihren Seelenverwandten, sondern auch sich selbst. Sie weiß nicht, wie sie allein weiterleben soll. Gerry war ihre ganze Welt, die Sonne ihres Universums. Depression und Trauer haben sie fest im Griff. An den meisten Tagen findet sie nicht einmal die Kraft, aufzustehen. Doch ihr Angetrauter kannte seine Frau besser, als sie dachte. Nach seinem Tod erreicht Holly ein Päckchen, in dem sich 10 nach Monaten beschriftete Briefe befinden. Hollys Herz setzt beinahe aus, als sie Gerrys Handschrift erkennt. Jeder Brief enthält genaue Anweisungen; Aufgaben, die Holly Monat für Monat meistern soll. Zögernd, aber entschlossen, Gerrys Wünsche zu erfüllen, begibt sie sich auf die schwerste und beängstigendste Reise, die sie je unternehmen musste: den Weg zurück ins Leben.

 

Ich denke, ich habe durch „P.S. Ich liebe Dich“ herausgefunden, welches grundsätzliche Problem ich mit Chic-Lit habe. Doch bevor ich euch von dieser bahnbrechenden Erkenntnis berichte, erst einmal ein paar Worte zum Buch selbst. Für das richtige Publikum ist Cecelia Aherns Erfolgsroman garantiert die Erfüllung eines literarischen Traums. Die Idee, dass der verstorbene Gerry seiner Frau Briefe hinterlässt, um ihr zurück ins Leben zu helfen, ist ohne Zweifel süß und – so ungern ich das Wort gebrauche – romantisch. Gerry liebte Holly und kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es ihr schwerfallen würde, sich eine Zukunft ohne ihn vorzustellen. Trauer lähmt. Cecelia Ahern illustriert diesen Fakt elegant, indem sie Hollys Umfeld große Veränderungen durchleben lässt, während sie selbst stillsteht. Um sie herum geht das Leben weiter, nur sie tritt auf der Stelle. Gerrys Tod versetzte sie verständlicherweise in eine Schockstarre, aus der sie erst die Briefe langsam befreien. Sie ist verblendet, vollkommen in ihrer Trauer versunken und nicht mehr in der Lage, sich selbst korrekt wahrzunehmen. Als sie sich in einem Film sieht, den ihr Bruder an einem feuchtfröhlichen Abend mit ihren Freundinnen drehte, ist Holly schockiert, wie unfassbar traurig sie nach außen wirkt. Sie glaubte, sich gut zu schlagen, dabei ist ihr ins Gesicht geschrieben, wie furchtbar unglücklich sie ist. Ahern versäumt es nicht, abzubilden, dass ein Verlust dieser Größenordnung durchaus hässliche Seiten hat. Holly ist selten eine würdevoll trauernde Witwe, oft überkommen sie giftige, eifersüchtige, ungerechte Gefühle und Gedanken, betrachtet sie das Glück ihres Freundeskreises. Ich fand ihren Trauerprozess insgesamt sehr realistisch beschrieben und hatte keinerlei Schwierigkeiten, jede der vier Phasen (nach Kast) zu erkennen und nachzuvollziehen. Trotz dessen berührte mich Hollys Leidensweg nicht in dem Maße, wie er es vermutlich sollte. Zu oft wurde ich daran erinnert, wie abhängig die junge Frau von ihrem Ehemann war. Das Frauenbild, das Holly verkörpert, widerspricht allem, was ich mir für mein Leben wünsche. Ohne Gerry hat Holly nichts: kaum Freunde, keine Hobbys, keinen Job und keinen Lebenssinn. Sie definierte sich über ihre Beziehung; es war ihr genug, Gerrys bessere Hälfte zu sein und er scheint sie nie dazu inspiriert zu haben, mehr erreichen zu wollen. Er ist an ihrer Hilflosigkeit nicht unschuldig, denn er ließ es zu, dass sie sich von ihm abhängig machte. Sie sah sich nie veranlasst, eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln und steht deshalb jetzt vor der Mammutaufgabe, sich selbst zu erfinden. Ich konnte sie nur bedingt bemitleiden, weil ich das Gefühl hatte, ihre unbestreitbar schmerzhafte und grauenvolle Situation wäre leichter zu ertragen gewesen, hätte sie sich bereits weit vor Gerrys Tod ein eigenes Leben aufgebaut. Außerdem war mir der Druck, Holly bemitleiden zu müssen, viel zu stark. Ich denke, DAS ist mein Problem mit der Chic-Lit. Ich reagiere allergisch auf die allzu plakative Manipulation meiner Emotionen. Ich will Mitgefühl empfinden, weil die Figuren es verdienen, nicht, weil ich gezwungen werde. Ich will aus eigenem Antrieb weinen, nicht, weil ich keine andere Wahl habe. Zwang erstickt jegliches natürliche Gefühl im Keim.

 

„P.S. Ich liebe Dich“ ist ein gutes Buch. Das kann ich reinen Gewissens behaupten. Cecelia Aherns nahbarer Schreibstil liest sich leicht und flüssig; die Geschichte ist einfühlsam und psychologisch realistisch, wenn auch ein wenig kitschig, was ich allerdings erwartet hatte. Ich bereue nicht, es gelesen zu haben, obwohl mich der Film damals besser erreichte. Das wichtigste Ergebnis dieses Lektüre-Experiments ist für mich indes, verstanden zu haben, warum ich der Chic-Lit kaum etwas abgewinnen kann. Alle Autor_innen manipulieren die Gefühle ihrer Leser_innen. Das ist ihr Job als Geschichtenerzähler_innen. Autor_innen wie Cecelia Ahern jedoch spielen berechenbar und unverblümt auf der Klaviatur der Emotionen, was mir persönlich einfach nicht subtil genug ist. Kurz gesagt, ich möchte nicht merken, dass ich manipuliert werde. Daher werde ich vermutlich niemals ein Fan der Chic-Lit. Und das ist okay. Ich habe es versucht, herausgefunden, dass es mir nicht zusagt und die Gründe dafür analysiert. Fall abgeschlossen.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/07/12/cecelia-ahern-p-s-ich-liebe-dich
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review 2017-06-09 10:05
Eine Hommage an alles Zauberhafte, Unerklärliche und Wundersame
Der Nachtzirkus - Erin Morgenstern

Erin Morgenstern, die Autorin des Erfolgsromans „Der Nachtzirkus“, ist mir unheimlich sympathisch. Nicht, weil ihr Buch zauberhaft ist (obwohl es das ist), sondern weil sie ehrlich ist. Seit 2011 hat Morgenstern nichts mehr veröffentlicht. Sie arbeitet an einem neuen Projekt, ohne dass ein Ende absehbar wäre. Warum wird die gute Frau nicht fertig, fragt ihr euch? Weil ihr das Schreiben unfassbar schwerfällt, was sie auf ihrem Blog offen bekennt. Genau das ist der Grund, weshalb ihr spontan mein Herz zufliegt. Sie ist kein Naturtalent. Sie muss hart für jedes Wort kämpfen und jeden Satz mühsam erarbeiten. Ich verstehe, dass sie der Schreibprozess folglich häufig frustriert und das letzte, was sie hören oder lesen möchte, Fragen danach sind, wann endlich ihr neues Buch rauskommt. Also, lassen wir Erin Morgenstern doch einfach in Ruhe und erfreuen uns an dem, was wir haben: „Der Nachtzirkus“.

 

Er kündigt sich nicht an. Er kommt auf leisen Sohlen, im Schutz der Nacht. Eines Morgens stehen seine Zelte plötzlich auf einem Feld oder einem freien Platz in deiner Stadt, wie von Geisterhand. Er öffnet erst nach Einbruch der Dunkelheit. Einen Besuch wirst du nie mehr vergessen. Er lehrt dich das Staunen, verzaubert dich mit unbeschreiblichen Wundern: der Cirque des Rêves.
Niemand ahnt, dass der gefeierte Zirkus der Träume hinter den Kulissen der Austragungsort eines magischen Wettstreits ist. Zwischen den fantastischen Zelten einzigartiger Attraktionen tobt der Kampf zweier konkurrierender Zauberer, ein Kampf auf Leben und Tod. Jahrelang bereiteten sie ihre Schützlinge akribisch auf die Anforderungen des Wettbewerbs vor, schulten und testeten sie unabhängig voneinander. Marco und Celia wurde das Geschenk der Magie zuteil. Doch dieses Geschenk fordert einen entsetzlich hohen Preis. Wie hoch dieser Preis tatsächlich ist, erfahren sie erst, als sie sich begegnen und sich unsterblich ineinander verlieben…

 

Ich will mir ein Beispiel an Erin Morgensterns Ehrlichkeit nehmen: die Rezension zu „Der Nachtzirkus“ fällt mir schwer. Ich weiß nicht so richtig, was ich schreiben soll. Diesem Buch ist nichts hinzuzufügen, es gibt meiner Meinung nach keine Rätsel, die analysiert oder entschlüsselt werden müssten. Es steht für sich selbst. Die Geschichte lebt durch sich selbst, nach versteckten Bedeutungen fahndete ich vergeblich. Ich habe das Gefühl, dass Erin Morgenstern nicht versuchte, eine Botschaft zu vermitteln, sondern einfach einen Roman schrieb, der eine wundervolle Hommage an die Fantasie und die Liebe, an alles Zauberhafte, Unerklärliche und Wundersame ist. Sie schrieb ein Buch zum Genießen, ein Buch zum Träumen. Ich denke nicht, dass sie möchte, dass sich ihre Leser_innen den Kopf über Dinge zerbrechen, die gar nicht da sind, auf Teufel komm raus jedes Wort interpretieren und jeden Satz zerpflücken. Ich glaube, dieses Buch muss man einfach so nehmen, wie es ist: märchenhaft und träumerisch. Dieser Intuition folgte ich während der Lektüre und gab mir große Mühe, den Cirque des Rêves wahrhaft zu erleben, mich der geheimnisvollen, mystischen Atmosphäre hinzugeben und jeden Augenblick auszukosten. Der Zirkus ist eine sagenhafte Kulisse und ein unverzichtbarer Baustein im Geflecht der Geschichte. Fast wirkte er auf mich wie ein lebendiges Wesen, mit einer individuellen Persönlichkeit und einem eigenen Charakter. Er verbindet die vielen verschiedenen, liebenswert skurrilen Akteure des Romans, die in ihm alle etwas anderes, aber genau das finden, was sie suchen und brauchen. Er erfüllt die Menschen, Besucher_innen wie Betreiber_innen gleichermaßen. Er inspiriert Liebe und die Bereitschaft, an Wunder zu glauben. Magie schimmert zwischen und in den Zelten, in jeder Ecke und jedem Winkel, da Marco und Celia ihm während ihres unfreiwilligen Wettstreits unbeabsichtigt Leben einhauchen. Ihre Liebesgeschichte ist eine bezaubernde Variation des „Romeo und Julia“ – Motivs, die sich unaufdringlich einschleicht. Obwohl ihre Situation durchaus dramatisch und tragisch ist, verzichtete Erin Morgenstern auf billige, plakative Dramatik und schildert ihren verzweifelten Kampf gegen die Beschränkungen und Regeln des Wettbewerbs, für eine gemeinsame Zukunft, ernsthaft und glaubwürdig. Effekthascherei und Kitsch scheinen ihr völlig fremd zu sein, sodass ich mich von der emotionalen Ebene in „Der Nachtzirkus“ nicht abgestoßen, sondern berührt fühlte. Ich wünschte Marco und Celia, dass sie eine Möglichkeit finden, zusammen zu sein. Trotz dessen muss ich gestehen, dass mir das Buch beinahe zu leise, zu sanft und zart erschien. Es ist so filigran und subtil, dass mir ein wenig der Wow-Moment fehlte. Beim Lesen empfand ich keine Spannung, sondern Faszination. Es reißt nicht mit, es nimmt die Leser_innen behutsam an die Hand. Nun ist das natürlich reine Geschmackssache, doch ich mag es einfach etwas zupackender.

 

„Der Nachtzirkus“ ist fantasievoll und charmant. Der Reiz der Geschichte bündelt sich in dem atemberaubenden Setting, denn der Cirque des Rêves ist Dreh- und Angelpunkt aller inhaltlichen Entwicklungen. Er ist Ursache und Wirkung, Alpha und Omega, Anfang und Ende. Jede Seite des Buches ist von seiner besonderen Magie gezeichnet, weshalb die Lektüre für mich eine einzigartige Erfahrung war, die ich von Herzen weiterempfehlen kann. Obwohl ich normalerweise keine große Vorliebe für Liebesgeschichten habe, ging die anmutige Romantik von Marcos und Celias Beziehung zueinander und ihrer Beziehung zum Zirkus nicht an mir verloren. Ich war verzaubert. Ich wünschte, ich könnte nur eine Nacht lang durch die Gänge und Zelte schlendern, den Alltag vergessen und selbst all die Wunder erleben, die hinter den schwarz-weiß gestreiften Planen darauf warten, entdeckt zu werden. Es ist wahr: einen Besuch im Cirque des Rêves vergisst man nie mehr. Selbst, wenn man ihn nur mental mit Erin Morgensterns Hilfe in „Der Nachtzirkus“ betreten konnte.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2017/06/09/erin-morgenstern-der-nachtzirkus
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review 2016-12-08 09:29
Eine unrealistische Verkettung hanebüchener Umstände
Wherever Nina Lies - Lynn Weingarten

„Wherever Nina Lies“ von Lynn Weingarten ist ein weiteres Buch, das es dank des Lesebingos 2016 auf meinen Kindle schaffte. Ich wählte es für die Aufgabe „Lies ein Buch, in dem die Hauptfigur wie du heißt“ aus. Da ich einen seltenen polnischen Nachnamen trage, hatte ich keine Hoffnungen, die Aufgabe mit diesem erfüllen zu können. Also konzentrierte ich mich bei meiner Suche nach passender Lektüre auf meinen Spitznamen, unter dem mich alle Welt kennt. Ich war positiv überrascht, als sich herausstellte, dass Lynn Weingarten eine New York Times Bestsellerautorin ist, deren Roman „Suicide Notes From Beautiful Girls“ viel Zuspruch erhielt. Optimistisch, dass ich mit „Wherever Nina Lies“ nicht allzu falsch liegen könnte, begann ich die Lektüre und freute mich darauf, die Protagonistin Ellie kennenzulernen.

 

Ellies Leben ist aus dem Gleichgewicht. Seit ihre große Schwester Nina vor zwei Jahren spurlos verschwand und nicht einmal eine Nachricht für sie und ihre Mutter hinterließ, plagt sie die Frage, was mit ihr geschehen ist. Sie weiß, dass sie sich an jeden Strohhalm klammert, der sich ihr bietet und falsche Hoffnungen zerstörerisch sein können. Doch als sie in einem alten Buch auf eine Zeichnung von Nina stößt, ist sie fest überzeugt, dass ihr Fund kein Zufall ist. Es ist ein Zeichen. Ihre beste Freundin Amanda hält sie für verrückt, aber Ellie weiß einfach, dass Nina gefunden werden möchte. Hals über Kopf stürzt sie sich in eine verzweifelte Schnitzeljagd. Dankbar für jede Hilfe, die sie bekommen kann, zögert sie nicht, Unterstützung von Sean anzunehmen, obwohl sie ihn kaum kennt. Ihr gemeinsamer Road Trip deckt düstere Geheimnisse auf – ist Ellie wirklich bereit, die Wahrheit über Nina zu erfahren?

 

Herrje. Was für ein melodramatisches Buch. Ich bin froh, dass ich mit der Protagonistin neben dem Vornamen kaum etwas teile. Ich möchte nicht sein wie sie. Führte ich mich auf wie Ellie, meine große Schwester würde mir einen Vogel zeigen und mich fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe. Vielleicht ist unsere Beziehung anders geartet, aber ich hatte doch den Eindruck, dass die Art und Weise, wie Ellie ihre gesamte Existenz um Nina als Mittelpunkt herum organisiert, höchst ungesund ist. Sie ist regelrecht besessen von ihrer Schwester, als wäre ihr Leben eine Uhr, die in dem Moment stehen blieb, als Nina verschwand. Ist sie denn gar nicht wütend? Würde meine Schwester von einem Tag auf den anderen kommentarlos abhauen, ich wäre stinksauer. Nicht so Ellie. Nein, Ellie verzeiht Nina ihr egoistisches Handeln und ist völlig unfähig, sich ein Leben ohne sie aufzubauen. Bei allem Verständnis für schwesterliche Liebe, ich kann nicht nachvollziehen, wie man sich so abhängig von einer Person machen kann. Das ist traurig, allerdings auf einer anderen Ebene, als Lynn Weingarten es darstellt. Ellie ist ein Trauerkloß, eine richtige Spaßbremse. Ihr Dasein besteht einerseits aus ihrer besten Freundin Amanda, andererseits aus ihrem Job in einem Café. Darüber hinaus hat sie gar nichts. Zur Schule geht sie scheinbar nicht, obwohl sie erst 16 Jahre alt ist und neben Amanda und ihrem Boss Brad hat sie offenbar keine Freunde. Die Beziehung zu ihrer Mutter ist ein Witz, die Nina übrigens auch nie als vermisst meldete. Gleichgültige Koexistenz beschreibt es wohl am besten. Ihr Leben ist leer, sie selbst nahezu paralysiert. Lynn Weingarten wollte mich unbedingt überzeugen, dass Ellie ihre Schwester so sehr vermisst, dass sie bereit ist, alles zu tun, um sie zurückzubekommen. Nach zwei Jahren der Abwesenheit sollte sie eigentlich einen gewissen Grad der Akzeptanz für die Situation erreicht haben und nicht sofort alles stehen und liegen lassen, sobald eine fadenscheinige Hoffnung an ihre Tür klopft. Nun, Ellie empfindet das offensichtlich anders. Als ihr Ninas Zeichnung in die Hände fällt, die sie jeder Zeit hätte anfertigen können, ist Ellie sicher, dass diese ein Hinweis ist – der Beginn einer unrealistischen Verkettung hanebüchener Umstände. Sie lässt sich auf einen Road Trip mit Sean ein, der sich im letzten Drittel des Buches wenig überraschend und wenig subtil als nicht das entpuppt, was er vorgab zu sein. Kann passieren, wenn man zu einem Fremden ins Auto steigt. Man lernt schon im Kindergarten, dass man das deswegen lieber lassen sollte. Nebenbei erkennt Ellie, dass ihre beste Freundin Schwierigkeiten hat, mit einer Verschiebung im Machtgefüge ihrer Freundschaft umzugehen und ist schnell dabei, Amanda als eifersüchtige Bitch abzustempeln, die sowieso nie an ihre Mission, Nina zu finden, glaubte. Oh, wie stereotyp. Wie dumm. Letztendlich findet Ellie natürlich die Wahrheit über Ninas Verschwinden heraus. Diese hat mich vor allem in der Tiefe sehr enttäuscht. Weingarten spricht Nina von jeglicher Schuld frei. Sie vermittelt ihren Leser_innen, dass Nina keine andere Wahl hatte, als fortzugehen, was einfach nicht stimmt. Man hat immer eine Wahl und ihr Entschluss, wegzulaufen, war ganz bestimmt nicht rücksichtsvoll, sondern rücksichtslos. Es stört mich nicht, dass Nina so handelte. Es stört mich, dass Weingarten zu Gunsten eines fröhlichen Happy Ends so tut, als wäre Verschwinden die einzige Lösung gewesen und die emotionalen Auswirkungen von Ninas Entscheidung völlig ignoriert. Küsst euch und habt euch wieder lieb, das ist das Motto zum Ende des Buches.

 

Ich hätte wohl nicht vom Erfolg von „Suicide Notes From Beautiful Girls“ auf die Qualität von „Wherever Nina Lies“ schließen dürfen. Es wundert mich nicht, dass Lynn Weingarten mit diesem Roman nicht die New York Times Bestsellerliste stürmte. Ich fand die Geschichte abwegig und ermüdend berechenbar. Die Lektüre hat sich für mich nicht gelohnt. Glücklicherweise bin ich unabhängiger und humorvoller als meine Namensvetterin in diesem Buch. Manchmal steckt in einem kleinen fehlenden „e“ eben eine ganze Menge Persönlichkeit.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2016/12/08/lynn-weingarten-wherever-nina-lies
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review 2015-12-23 09:12
Die Tränen flossen in Strömen
Was fehlt, wenn ich verschwunden bin - Lilly Lindner

Lilly Lindner wurde berühmt durch die Veröffentlichung ihrer Biografie „Splitterfasernackt“ im Jahre 2011. Zugegebenermaßen ist dieses Buch an mir völlig vorbeigegangen. Der Name Lilly Lindner schob sich erst in mein Bewusstsein, als ihr neuster Roman „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ durch die Blogs tingelte und in höchsten Tönen gelobt wurde. Die Begeisterung der Blogger_innen war so groß, dass ich entschied, es lesen zu wollen, obwohl ich Bücher zum Thema psychische Erkrankungen mittlerweile eher meide. Was mich überzeugte, war, dass es sich bei diesem Buch um einen Briefroman handelt und Lindner die Perspektive einer Angehörigen einnimmt.

 

Für die 9-jährige Phoebe ist ihre große Schwester das Zentrum ihrer Welt. Niemand versteht sie so wie April. Doch nun ist April fort. Ihre Eltern haben sie in eine Klinik gebracht, weil sie krank ist. Phoebe versteht nicht, was Magersucht eigentlich bedeutet, aber sie spürt sehr genau, dass die Krankheit ihre Familie zerreißt. Allein mit Millionen Fragen tut sie das einzige, das ihr einfällt, um mit der Sehnsucht nach ihrer Schwester fertig zu werden: sie schreibt April Briefe. Obwohl sie niemals eine Antwort erhält, schickt sie fast täglich Worte hinaus in die Stille. Denn nur die Worte ermöglichen es Phoebe, die Leere, die April hinterlassen hat, einen kurzen Moment zu ertragen.

 

„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ ist das emotionalste Buch, das ich 2015 gelesen habe. Lilly Lindner ist eine beeindruckend talentierte Schriftstellerin, die eine extreme Nähe zu ihren Figuren erzeugt und auf diese Weise eine starke emotionale Resonanz provoziert. Ich konnte gar nicht verhindern, dass die Tränen in Strömen flossen. Es tat einfach so weh, diese Briefe zu lesen. Die Geschichte der beiden Schwestern hat mir wieder und wieder das Herz gebrochen. Ich wusste bereits vorher, dass Lindner nicht nur Phoebe eine Stimme verleiht, sondern auch April, doch darauf, wie intensiv ihre Verbindung ist und wie sehr sie einander in ihrer dysfunktionalen Familie brauchen, war ich nicht vorbereitet. Die beiden Mädchen sind hochintelligent und zutiefst missverstanden. Ihre Eltern sind von ihrer Intelligenz so eingeschüchtert, dass sie sie wie eine Krankheit behandeln. Sie sind überfordert und beschneiden die Kreativität ihrer Töchter, statt Phoebe und April angemessen zu fördern. Sie erwarten von ihnen, dass sie sich wie „normale“ Kinder verhalten. April ist unter dem Druck, ihren Erwartungen gerecht werden zu müssen, zerbrochen. Ihre Magersucht ist ein verzweifelter, stummer Hilferuf, den ihre Eltern sich meiner Meinung nach schlicht weigern zu sehen. Sie interessieren sich nicht dafür, warum April nicht isst und verschwenden ihre Zeit lieber mit fruchtlosen Anschuldigungen. Dabei ist ihre Art, April zu behandeln, nur ein Ausdruck ihrer eigenen Hilflosigkeit und Ohnmacht. Sie wissen nicht, wie sie auf ihre Tochter eingehen sollen und reagieren deshalb mit Wut. Sie stellen die falschen Fragen – wie könnte April ihnen einleuchtende Antworten geben? Phoebe ist die einzige, die April erreicht, doch Phoebe ist ein Kind. Weder ist es ihre Aufgabe, April zu retten, noch ist sie stark genug, das volle Gewicht von Aprils Traurigkeit zu tragen.
„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ ist ein großartiges Buch, das mich emotional sehr mitgenommen hat, alle Dämme in mir brach und definitiv eine hohe Wertung verdient. Dennoch bin ich froh, dass zwischen dem Lesen und dieser Rezension etwa zwei Wochen lagen, in denen ich Zeit und den nötigen Abstand erhielt, diese gefühlvolle Geschichte objektiv zu betrachten. Je länger ich das Buch gedanklich sezierte, desto deutlicher wurde, dass mich aller Betroffenheit zum Trotz irgendetwas störte. Ich musste tief in mich gehen, um herauszufinden, über welche Kante ich immer wieder stolperte. Mein Problem mit „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ ist folgendes: ich sollte heulen. Ich hatte keine andere Wahl, als Mitleid mit Phoebe und April zu haben und Wut für ihre Eltern zu empfinden. Ich fühle mich von Lilly Lindner emotional manipuliert. Das Buch drückt absichtlich und wenig subtil auf die Tränendrüse. Es gestand mir sehr wenig Raum für eigene Gedanken und Gefühle zu; stattdessen habe ich vermutlich genau und ausschließlich das empfunden, was Lilly Linder von mir erwartete. Ich fühlte mich seelisch in eine Ecke gedrängt, als würde mich Lindner zwingen, so und nicht anders zu empfinden. Meines Erachtens nach hat sie deswegen auch darauf verzichtet, die hässliche, psychische Fratze der Anorexia nervosa zu zeigen. All der Zorn und die Zerrissenheit, die ich von einem magersüchtigen Teenager erwarten würde, fehlen April. Da ist kein Selbsthass, kein Selbstekel, keine einzige Empfindung, die für Leser_innen potentiell unverständlich sein könnten, sodass die Sympathie für sie ungetrübt bleibt. Ich verstehe zwar, warum es Lindner wichtig war, dass April in einem positiven Licht erscheint, doch ich fand das Bild des armen, missverstandenen, lieben Mädchens ohne Fehl und Tadel etwas einseitig und nicht völlig glaubhaft.

 

„Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ habe ich auf verschiedenen Ebenen meines Ichs unterschiedlich wahrgenommen. Emotional war dieses Buch ungeheuer verstörend; intellektuell fielen mir ein paar kleine Makel auf. Trotz dessen ist es für mich nicht im Geringsten schwierig, eine Bewertung festzulegen, denn die Gefühlsebene ist der objektiven, analytischen Ebene gegenüber immer dominant. Wenn mich ein Buch so zum Weinen bringt wie dieses, muss sich das einfach in der Anzahl der Sterne niederschlagen.
Solltet ihr mit dem Gedanken spielen, „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ zu lesen, muss euch klar sein, dass das kein Spaziergang wird. Es wird weh tun. Es wird euch aber auch eine Krankheit näherbringen, die bis heute stigmatisiert und tabuisiert wird.
Ich für meinen Teil nehme aus diesem Buch vor allem eines mit: tiefe Dankbarkeit für meine wundervolle, unterstützende Familie.

Source: wortmagieblog.wordpress.com/2015/12/23/lilly-linder-was-fehlt-wenn-ich-verschwunden-bin
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